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Antikoagulanzien

Vom Rattengift zum Arzneimittel

22.05.2015  11:39 Uhr

Von Edith Schettler / Heute können Ärzte bei den meisten Patienten Blutgerinnungsstörungen quasi maßgeschneidert behandeln. Fachärzte haben die Wahl zwischen subkutan injizierbaren Heparinen und zahlreichen oral anwendbaren Arzneistoffen. Die Entdeckung des ersten oralen Antikoagulans Warfarin ist – wie so häufig – einem Zufall und der Courage eines US-amerikanischen Farmers zu verdanken.

Das weltweit am häufigsten angewendete orale Antikoagulans ist Warfarin, in Deutschland unter dem Namen Coumadin® im Handel. Wie das Phenprocoumon gehört auch Warfarin zur Gruppe der Vitamin-K-Antagonisten. Mit 4,15 Millionen abgegebenen Packungen pro Jahr (Stand 2013) sind diese beiden Substanzen die am häufigsten verordneten Arzneistoffe in der Gruppe der chemisch definierten Antikoagulanzien, im Volksmund auch Blutverdünner genannt.

 

Thromben sind Gerinnsel in geschlossenen Blutgefäßen und bestehen aus Thrombozyten, Blutzellen und Fibrin. Bei entsprechender Größe verstopfen sie Kapillaren und kleinere Gefäße komplett und unterbinden somit die Blutzufuhr zu den Organen. Im schlimmsten Fall ist deren Funktionsausfall die Folge. Je nachdem, an welcher Stelle der Thrombus entstanden ist, führt er zur Thrombose, zu einem Schlaganfall, Herzinfarkt oder einer Embolie.

 

Die Arzneistoffgruppe der Antikoagulanzien soll die Bildung von Thromben verhindern. Die Auswahl des Arzneistoffes richtet sich danach, wo der Thrombus entstanden ist oder aller Voraussicht nach entstehen könnte. Thromben im arteriellen System bestehen vorwiegend aus Thrombozyten, ihre Entstehung lässt sich mit den Thrombozytenaggregationshemmern Acetylsalicylsäure und Clopidogrel verhindern. Thromben in den Venen enthalten jedoch relativ viel Fibrin. Daher ist es sinnvoll, dass die eingesetzten Arzneistoffe in den Prozess der Blut­gerinnung eingreifen wie die direkten oralen Antikoagulanzien und die AT-III-Agonisten, zu denen die Heparine gehören.

 

Die Synthese der Gerinnungsfaktoren findet in der Leber statt und ist Vitamin-K-abhängig. Ähnelt eine Substanz der Struktur des Vitamin K, bindet sie anstelle des Vitamins an das Enzym Vitamin-K-Epoxid-Reduktase und blockiert dieses. Damit stoppt die Synthese der Gerinnungsfaktoren und die Blutgerinnung verzögert sich. Grundbaustein aller Vitamin-K-Antagonisten ist das Cumarin (1,2-Benzopyron), ein aromatischer sekundärer Pflanzenstoff, der zum Beispiel im Waldmeister, in Gräsern, Steinklee, Pelargonienwurzeln, Cassiazimt und Tonkabohnen vorkommt.

 

Allerdings setzt die Wirkung dieser Arzneistoffe erst nach etwa sechs Stunden ein, wenn die im Blut noch vorhandenen Gerinnungsfaktoren verbraucht sind. Ihre Plasmahalbwertszeit kann bis zu mehreren Tagen betragen, sodass Vergiftungen recht problematisch sind. Als Antidot steht Vitamin K1 zur Verfügung.

Mysteriöses Rindersterben

Zu Beginn der 1920er-Jahre trat in den Prärien Kanadas und der Nordstaaten der USA eine mysteriöse Tierseuche auf, der massenhaft Kühe und Schafe zum Opfer fielen. Augenscheinlich gesunde Tiere starben ohne sichtbaren Grund innerhalb von wenigen Tagen an inneren Blutungen. Nicht nur für die betroffenen Farmer war das eine Katas­trophe – sie verloren große Teile ihrer Herden und standen wirtschaftlich am Abgrund.

Weil wegen der nassen Witterung die Maisernte schlecht ausgefallen war, hatten die Bauern Grünfutter als Wintervorrat eingelagert. Doch der hohe Wassergehalt des Futters hatte einen Befall mit Schimmelpilzen zur Folge. In guten Jahren hätten die Farmer die verdorbene Silage und das verschimmelte Heu entsorgt – doch nach der Weltwirtschaftskrise konnten sie es sich nicht leisten, Futter zuzukaufen. So mussten die Tiere das verschimmelte Futter fressen. Unglücklicherweise enthielt es eine große Menge an Gelbem und Weißem Steinklee (Melilotus).

 

In Europa war bereits im Jahr 1888 eine Rinderseuche nach dem Verfüttern von Süßklee aufgetreten. Damals wurden Bakterien als Verursacher der Infektion vermutet. Erst im Jahr 1923, veranlasst durch die Tierseuche im eigenen Land, begann der Kanadier Frank W. Schofield (1889–1970) die Ursache der Krankheit zu erforschen, der er den Namen »Süßklee-Vergiftung« gab. Der Mikrobiologe schloss eine Infektion durch Bakterien aus, weil die Tiere nicht mit Fieber reagierten. Mehr als zehn Jahre lang trug er Fakten zu dieser Vergiftung zusammen und stellte im Wesentlichen fest, dass sich die Aktivität von Prothrombin im Blut der Tiere verändert hatte und dass das im Süßklee vorhandene Cumarin eine mögliche Ursache dafür sein könnte. Doch warum die Krankheit nur sporadisch auftrat, konnte er nicht erklären – denn Kühe fressen auf der Weide ja ständig Klee.

Süßklee-Krankheit

An einem Wintertag des Jahres 1934, also etwa zehn Jahre nach dem ersten Ausbruch der »Süßklee-Krankheit«, soll Ed Carlson, ein Farmer aus Wisconsin (USA), mehr als 200 Meilen weit durch einen Schneesturm gefahren sein, um eine tote Kuh und eine Milchkanne voll ungeronnenen Blutes in seinem Lastwagen zur Universität von Wisconsin-Madison zu bringen. Als er dort spät abends ankam, fand er nur noch das Arbeitszimmer von Professor Karl Paul Link (1901–1978) offen. Diesem soll Carlson die Kanne voller Blut vor die Füße gestellt und ihn angefleht haben, die erneut ausgebrochene »Süßklee-Krankheit« aufzuklären. Link war zu dieser Zeit mit der Chemie von Kohlenhydraten beschäftigt und riet dem Farmer zunächst nur, sein Futter wegzuwerfen und seine teuersten Zuchttiere mit einer Bluttransfusion zu retten. Doch die Begegnung mit dem Farmer soll für Link der Auslöser gewesen sein, sich der Cumarin-Forschung zuzuwenden.

In den folgenden sechs Jahren gelang es Link und seinen Mitarbeitern, Dicumarol als das »hemorrhagic agent« (den Stoff, der das Blut flüssig macht) zu erkennen, zu isolieren und später sogar zu synthetisieren. Unter dem Einfluss von Schimmelpilzen entsteht das Dicumarol aus o-Dihydrocumarsäure (Melilotsäure). Deshalb also war un­verdorbenes Grünfutter trotz seines Cumarin­gehaltes für die Kühe nicht gefähr­lich. Die Wisconsin Alumni Research Foundation (WARF) finanzierte Links Forschungen und meldete im Jahr 1941 das Patent auf Dicumarol an. Nachdem im Jahr 1939 Henrik Dam (1895–1976) und Edward Adelbert Doisy (1893–1986) die Struktur von Vitamin K aufgeklärt hatten, erkannte Link die Ähnlichkeit mit Dicumarol. Der Kanadier schlussfolgerte richtig, dass dieses das Vitamin K bei der Synthese der Gerinnungsfaktoren verdrängt.

 

Die Ratten und ein Seemann

Während eines Sanatoriumsaufenthaltes aufgrund einer Lungenerkrankung im Jahr 1945 kam Link der Gedanke, Dicumarol als Rattengift anzuwenden. Da die klugen Tiere immer schnell die Praxis mit herkömmlichen Ködern durchschauten, würden sie aber die verzögerte Gerinnungshemmung nicht mehr mit der Aufnahme des Giftes in Verbindung bringen können, so Links Hypothese. Zurück am Institut, testete er mit seinen Kollegen 150 Abkömmlinge des Dicumarols auf ihre Eignung als »bessere Mausefalle«, wie Link sie bezeichnete. Mit der Nummer 42, (RS)-4-Hydroxy-3-(3-oxo-1-phenyl-butyl)-cumarin, hatte Link eine Substanz gefunden, die seine sämtlichen Anforderungen erfüllte. Seinem Geldgeber zum Dank nannte er sie WARFarin und das neue Rattengift wurde bereits im Jahr 1948 erfolgreich vermarktet. Die Anwendung am Menschen schloss Link aus, weil er die Substanz für zu toxisch hielt.

 

Erst als ein Matrose der US-Navy dank der Gabe von Vitamin K einen Selbstmordversuch mit Warfarin überlebte, war die Idee geboren, das Gift auch als Arzneimittel anzuwenden. Das bis dahin zur Gerinnungshemmung eingesetzte Heparin war wegen der täglichen Injektion für die Daueranwendung zu umständlich, mit Warfarin stand eine orale Anwendungsform als Alternative zur Verfügung. Der Nachteil der langen Plasmahalbwertszeit wurde durch Vitamin K als Antidot relativiert. So erfolgte im Jahr 1954 die Zulassung von Warfarin zur medizinischen Verwendung. Als bereits ein Jahr später der US-Präsident Dwight David Eisenhower (1890–1969) einen Herz­infarkt erlitt, konnten ihn seine Ärzte durch die Gabe des neuen Arzneimittels retten.

Höhere Sicherheit

Fast zeitgleich mit Warfarin kamen die Vitamin-K-Antagonisten Phenprocoumon und Ethylbiscoumacetat auf den Markt. Noch stand ihrer breiten klinischen Anwendung die mangelnde Möglichkeit entgegen, den Blutspiegel gut kontrollieren zu können. Doch als sich in den 1950er-Jahren die Methode zur Bestimmung der Prothrombinzeit in den Labors etablierte, war auch dieses Problem gelöst. Im Jahr 1982 vereinheitlichte die WHO die in den verschiedenen Ländern verwendeten unterschiedlichen Standards mit der weltweiten Einführung der International Normalized Ratio (INR) als Thromboplastin-Standard zur Bestimmung der Blutgerinnungszeit.

 

Trotz der deutlich längeren Plasmahalbwertszeit von Phenprocoumon (10 bis 14 Tage) im Vergleich zu Warfarin (2 Tage), etablierte sich Phenprocoumon in Deutschland schneller und wird auch heute noch häufiger verordnet. Der Arzneistoff ist zugelassen zur Therapie und Prophylaxe von Thrombosen und Embolien und zur Langzeitbehandlung bei Herzinfarkt-Risikopatienten. Zwar ergänzen inzwischen moderne Antithrombotika wie Dabigatran, Rivaroxaban und Apixaban die Therapiemöglichkeiten, doch immer noch gelten die Cumarine als Standardtherapie für die orale Antikoagulation. /

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