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Idiopathische Hypersomnie: Vom Schlaf übermannt

Manche Menschen fühlen sich nur im Bett richtig wohl. Nachdem sie morgens kaum aus den Federn ­gekommen sind, übermannt sie tagsüber in Abständen ein ­unüberwindliches Schlafbedürfnis, sie sind nur eingeschränkt leistungsfähig, ständig müde und ­unkon­zentriert. Nachts schlafen sie dann zehn Stunden und mehr, ­wachen wieder benommen auf, und der Kampf ­gegen die Schläfrigkeit beginnt von vorn.
Edith Schettler
06.06.2016  15:34 Uhr

Den Zustand übermächtiger Müdigkeit kennt jeder, der schon einmal längere Zeit ununterbrochen wach bleiben musste, etwa auf Reisen oder nach exzessiven Feiern. Folgen dann einige Nächte mit ausreichendem Schlaf, ist das Problem in aller Regel wieder behoben. Anders sieht das für Patienten mit idiopathischer Hypersomnie aus. Sie leiden lebenslang unter chronischer Schläfrigkeit und schwer kontrollier­baren Schlafattacken.

 

Schlafbedürfnis wie Babys

An einer idiopathischen Hypersomnie leiden in Deutschland etwa 8000 Menschen, doch vermutlich liegt die Zahl höher. Die American Academy of Sleep Medicine (AASM) hat 2014 die unterschiedlichen Schlafstörungen zur Vereinheitlichung der Diagnostik klassi­fiziert. In ihrer International Classification of Sleep Disorders (ICSD-3) unterscheiden die Experten verschiedene Formen der Hypersomnien, für die kein krankhafter Grund vorliegt. Dazu gehört neben der Narkolepsie und der periodischen Hypersomnie (Kleine-Levin-Syndrom) auch die idiopathische Hypersomnie. Diese seltene Erkrankung ist gekennzeichnet durch ein erhöhtes (hyper) Schlafbedürfnis (somnia) ohne erkennbare organische Ursache (idiopathisch). Sie tritt in zwei Formen auf: mit oder ohne verlängerten Nachtschlaf. Hypersomnie wird häufig mit Narkolepsie, einer der anderen krankhaften Veränderungen des Schlaf-Wach-Rhythmus, verwechselt. Diese beiden unterschieden sich jedoch in zwei Punkten: Im Unterschied zur Narkolepsie verläuft der Schlaf bei Hypersomnie-Patienten ungestört, sie nicken jedoch am Tag mehr oder weniger kurz ein. Diese Nickerchen bringen Narkolepsie-Patienten Erholung – Patienten mit idiopathischer Hypersomnie allerdings nicht. Ein nachlassender Muskeltonus und Lähmungserscheinungen wie bei Narkolepsie treten bei der idiopathischen Hypersomnie ebenfalls nicht auf.

Meist setzt die Erkrankung im jungen Erwachsenenalter ein, Männer und Frauen sind gleichermaßen betroffen. Die Krankheit beginnt schleichend. Die meisten Patienten bemerken zunächst, dass ihre Leistungsfähigkeit nachlässt. Morgens erwachen sie nur sehr schwer und überhören häufig den Wecker. Sie fühlen sich auch nach ausreichend Schlaf nicht ausgeruht, sind schlaftrunken und unkonzentriert. Tagsüber ständig müde schlafen sie bei monotonen Beschäftigungen, im Kino oder bei Vorträgen und Meetings ein. Haben Sie Zeit für einen Mittagsschlaf, dauert dieser sehr lange und bringt keine Erholung. Die ständige Müdigkeit macht den Tag für die Betroffenen zur Qual, ihr Umfeld reagiert nicht selten mit Unverständnis und Vorwürfen. Durch Konzentrationsmangel und Schlafattacken geraten die Patienten darüber hinaus nicht selten in gefährliche Situationen. So ist es ihnen bald nicht mehr möglich, an Maschinen zu arbeiten oder Fahrzeuge zu führen. Zunehmend geraten sie in eine berufliche und private Isolation, verlieren Arbeit, Freunde und mitunter werden sie sogar von der Familie verlassen.

 

Langwierige Diagnostik

Bis die Patienten zum Arzt gehen, können je nach Schwere der Erkrankung Wochen oder sogar Jahre vergehen. Aus der Anamnese erkennt der Arzt die jeweilige Form der idiopathischen Hypersomnie. Die Patienten, deren Schlafdauer extrem verlängert ist, berichten über einen mehr als zehn Stunden dauernden ungestörten Nachtschlaf und Schwierigkeiten beim Aufwachen. Zudem erzählen sie, dass unvermeidbare und nicht erholsame Schlafepisoden tagsüber mehrere Stunden andauern können.

 

Patienten mit idiopathischer Hypersomnie, die nachts weniger als zehn Stunden schlafen, wachen morgens zwar ohne größere Probleme auf, erleiden aber ebenfalls tagsüber mehrere nicht erholsame Schlafattacken. Als Krankheit gelten die Schlafstörungen dann, wenn sie bereits länger als drei Monate anhalten.

 

Derzeit kann der Arzt die Diagnose nur im Ausschlussverfahren stellen, weil noch keine konkret messbaren Krankheitsursachen bekannt sind. Die Spiegel der Hypothalamushormone Orexin A und B sind bei Patienten mit idiopathischer Hypersomnie unverändert. Diese beiden Neuropeptide steuern die Ausschüttung von Serotonin und halten damit unter anderem den Wachzustand aufrecht. Auch die Gewebemerkmale der Patienten sind unauffällig und lassen keine Rückschlüsse zu, dass ein Autoimmungeschehen die Erkrankung verursacht. Genetische Ursachen sind ebenfalls noch nicht bekannt, obwohl eine familiäre Häufung zu beobachten ist. Die einzige Möglichkeit, die Symptome zuzuordnen besteht darin, andere Schlafstörungen auszuschließen, was die Diagnosestellung erheblich verzögert. Erschwerend kommt hinzu, dass vielen Medizinern das Krankheitsbild der seltenen Krankheit nicht geläufig ist, sodass viele Patienten erst mehrere Fehldiagnosen erhalten.

 

Im Schlaflabor

Zunächst fordert der Arzt die Patienten auf, über mehrere Wochen ein Schlaftagebuch zu führen. Um diese Ergebnisse zu überprüfen, folgt danach die Überwachung in einem Schlaflabor. Die Leitlinie »Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen« der Deutschen Gesellschaft für Schlafmedizin (DGSM) gibt Empfehlungen zur Durchführung dieser Tests. So erfolgt mithilfe der Technik der Polysomnographie eine exakte Aufzeichnung der verschiedenen Schlafphasen.

Neben einem EKG und EEG werden bei der Polysomnographie unter anderem der Muskeltonus, die Augenbewegungen, die Körpertemperatur, der Blutdruck und der Sauerstoffgehalt des Blutes der Patienten festgehalten. Video- und Tonaufzeichnung ergänzen diese Messungen. Anhand der Aufzeichnungen und Daten können schlafbezogene Atmungs- und Bewegungsstörungen wie Schlaf-Apnoe oder das Restless-Legs-Syndrom sicher ausgeschlossen werden, ebenso organische Ursachen für den nicht erholsamen Schlaf wie Herzrhythmusstörungen.

 

Patienten, bei denen Hypersomnie vermutet wird, werden nicht nur in der Nacht, sondern auch tagsüber im Schlaflabor überwacht, um die Qualität der Tagesschlafphasen zu bestimmen.

 

In einem Multiplen Schlaflatenz-Test wird die Zeit gemessen, in der der Patient im Dunklen in entspannter Position nach der Aufforderung »Entspannen Sie sich, wehren Sie sich nicht gegen den Schlaf!« das Schlafstadium 1 erreicht. Hypersomnie-Patienten benötigen dazu weniger als 5 Minuten, Gesunde im Durchschnitt über 10 Minuten. Der anschließende Maintenance of Wakefulness Test (MWT) misst die Zeit, in der der Patient nach der Instruktion »Entspannen Sie sich, aber schlafen Sie nicht ein!« wach bleibt. Gesunden gelingt das mindestens 19 Minuten lang, Hypersomnie-Patienten schlafen spätestens nach 6 Minuten ein.

 

Auf diese Testphase folgt meist die Diagnostik durch einen Neurologen und einen Psychiater, um hirnorganische Störungen oder psychische Ursachen der Schlafstörungen auszuschließen.

 

Keine Standardtherapie

Die idiopathische Hypersomnie gehört zu den Erkrankungen, die bisher nur sehr ungenügend erforscht sind. So gibt es derzeit auch keine gültigen Therapiestandards. Manche Patienten profitieren davon, wenn sie ihren Tag gut durchstrukturieren und sich an die Regeln einer gründlichen Schlafhygiene halten. Dazu gehört beispielsweise, alle den Schlaf störenden Faktoren möglichst auszuschließen. Zudem können sie sich von Verhaltenstherapeuten darin schulen lassen, wie sie tagsüber gefährliche Situationen meiden und ungewolltes Einschlafen verhindern können. Einigen Betroffenen helfen bewusst eingelegte und über den Tag verteilte Schlafpausen von kurzer Dauer. Vor wichtigen Terminen sollten sie nochmals ein kurzes Schläfchen halten.

Aktuell besteht die einzige Möglichkeit zur medikamentösen Behandlung einer idiopathischen Hypersomnie in der Gabe von Stimulanzien. Diese führt in Verbindung mit der Verhaltenstherapie bei vielen Patienten zu akzeptablen Erfolgen, ist aber leider nicht in allen Fällen wirksam. Wegen des besten Nutzen-Risiko-Verhältnisses ist der Arzneistoff Modafinil Mittel der Wahl, während Wirkstoffe mit Suchtpoten­zial wie Amphetamine nur bei den Patienten zum Einsatz kommen sollten, bei denen die anderen Therapien versagt haben oder die die anderen Arzneistoffe nicht vertragen. Diese Arzneimittel mindern die Tagesschläfrigkeit, bleiben aber ohne Wirkung auf die Schlaftrunkenheit der Patienten, die außergewöhnlich lange schlafen. Da keine randomisierten Studien für die Therapie der idiopathischen Hypersomnie durchgeführt wurden, fehlen zugelassene Arzneimittel für diese Indikation, sodass die Ärzte die Behandlung off- label, das heißt ohne Zulassung, durchführen müssen.

 

Die Krankheit verläuft relativ stabil. Zwar gibt es Einzelfälle spontaner Besserung, Aussicht auf Heilung besteht für die Patienten jedoch nicht.

 

Generell ist die Lebenszeit der Pa­tienten verkürzt, allerdings nicht aufgrund der Schwere der Erkrankung. Doch das Risiko, einen schweren Arbeits- oder Verkehrsunfall zu erleiden, ist gegenüber Gesunden deutlich erhöht. Zudem führen der soziale Abstieg und der Leidensdruck die Betroffenen in die Isolation, in Extremfällen begehen sie Suizid. /