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PTA-Fortbildung

Gewitter im Bauch

11.01.2007  15:07 Uhr

PTA-Fortbildung

Gewitter im Bauch

Annette van Gessel, Isny

Der Verdauungstrakt erfüllt weit mehr Aufgaben, als die Nahrung aufzubereiten. Noch relativ unbekannt ist seine Funktion als Sinnesorgan, häufig unbeachtet seine Bedeutung für das Immunsystem. Grund genug, die 28. Isnyer Fortbildungstage für PTA im November diesem Thema zu widmen. Das Team des PTA-Berufskollegs an der Naturwissenschaftlich-Technischen Akademie in Isny begrüßte dazu mehr als 300 interessierte PTAs.

»Im Laufe des Lebens verarbeitet der Darm circa 30 Tonnen Nahrung und 50.000 Liter Flüssigkeit«, informierte Professor Dr. Michael Schemann vom Lehrstuhl für Humanbiologie der Technischen Universität München die Zuhörerinnen. »144 Tage unseres Lebens verbringen wir auf dem WC.« Normalerweise erledigt der Darm seine Aufgaben unabhängig von der Steuerung durch das Gehirn. Forscher haben herausgefunden, dass sich im Darm mehr als 100 Millionen Nervenzellen befinden, die den Neuronen im Gehirn verblüffend ähnlich sind. Beide Organe stehen zwar eng miteinander in Kontakt, interessanterweise ist diese Verbindung jedoch oft sehr einseitig: Während der Darm das Gehirn umfassend informiert, sendet das Gehirn nur sehr begrenzt Signale an den Darm.

Gesunde Menschen bemerken nicht, wenn ihr Darm arbeitet. Das bedeutet: Die Darmschleimhaut ist der Sitz eines zweiten eigenständigen Nervensystems, das auch als enterisches Nervensystem oder Bauchhirn bezeichnet wird. Dieses Bauchhirn arbeitet autonom, das heißt unabhängig vom Gehirn. Das komplexe Nervengeflecht durchzieht fast den gesamten Gastrointestinaltrakt. Die sensorischen Neurone im Darm reagieren direkt auf mechanische und chemische Stimuli und regulieren unter anderem die Darmmotilität, den mit der Sekretion und Absorption von Nahrungsbestandteilen verbundenen Ionentransport sowie den Blutfluss im Magen-Darm-Trakt.

Das Bauchhirn bedient sich bei der Signalübertragung spezieller Helfer, der sogenannten enterochromaffinen Zellen in der Schleimhaut. Diese übernehmen die Funktion von »Geschmackszellen«. Sie registrieren die chemische Zusammensetzung der Nahrung oder die Dehnung der Darmwand. Je nachdem, welche Botenstoffe freigesetzt werden, zieht sich der Darm zusammen oder erschlafft.

»Alle Neurotransmitter, die Sie vom Gehirn her kennen, finden Sie auch im enterischen Nervensystem«, erläuterte Schemann. Werden die enterochromaffinen Zellen gereizt, schütten sie Serotonin aus. »90 Prozent des Serotonins in unserem Körper stammt aus dem Darm.«

Vor allem junge Frauen erkranken

Zu den häufigsten Funktionsstörungen des Magen-Darm-Traktes zählt das Reizdarmsyndrom, auch IBS abgekürzt von der englischen Bezeichnung irritable bowel syndrom. Weltweit leidet jeder zehnte Mensch unter einem irritierten Darm. Typischerweise sind vor allem junge, gestresste Frauen zwischen 18 und 24 Jahren betroffen. Klagt eine Kundin in der Apotheke über Bauchschmerzen, Blähungen, Krämpfe, Unterleibsschmerzen oder Durchfall, könnte sich dahinter ein Reizdarm verbergen, so der Humanbiologe. Etwa 30 Prozent aller Menschen haben gelegentlich solche Beschwerden.

Das Erkrankungsrisiko ist nach einer infektiösen Gastroenteritis drei- bis zwölfmal erhöht. Reizdarm schränkt die Lebensqualität der Betroffenen extrem ein. »Manche Frauen trauen sich nicht mehr, das Haus zu verlassen und isolieren sich total«, berichtete Schemann. Experten seien sich darin einig, dass die Erkrankung multifaktoriell bedingt ist und die Störung verschiedene Ursachen haben kann. »Den typischen Reizdarmpatienten gibt es nicht«, schloss der Biologe und räumte ein, dass die therapeutischen Möglichkeiten sehr begrenzt seien.

Manche Reizdarmpatienten nehmen Bewegungen ihres Darms bewusst wahr. Forscher stellten fest, dass bei diesen Menschen eine bestimmte Region im Limbischen System, der Anterior Cingulate Cortex, besonders sensibilisiert ist, so dass sie einer ständigen Reizüberflutung ausgesetzt sind. Daher empfänden diese Menschen normale Verdauungsvorgänge als unangenehm und schmerzhaft. Diesen Patienten können niedrig dosierte Antidepressiva helfen. Amitryptilin habe sich als effektiver erwiesen als die SSRI, berichtete Schemann.

Biopsien klären Krankheitsbild

Bei Menschen mit einem hypersensiblen Darm sei außerdem eine gesteigerte Expression des Capsaicin-Rezeptors nachweisbar. Dieser Rezeptor ist für die Übertragung schmerzhafter Empfindungen verantwortlich. Er erhielt seinen Namen, weil er durch Capsaicin selektiv stimuliert wird. Capsaicin bedingt zum Beispiel die Schärfe von Chili-Schoten. Aus diesen Erkenntnissen leitet sich ein neuer Behandlungsansatz ab: Capsaicin soll in Zukunft therapeutisch zur Desensibilisierung der Schmerzfasern eingesetzt werden.

Bei Patienten mit schwerer Reizdarmsymptomatik gibt es Hinweise auf eine enterische Neuropathie, also degenerative Prozesse im enterischen Nervensystem: Die gastrointestinale Barriere ist beeinträchtigt, die Mikroflora verändert, die Motiltiät und die Sekretionsleistung des Darms sind gestört. Der Münchner Wissenschaftler untersuchte mit seinen Mitarbeitern Biopsien von Reizdarmpatienten. In deren Darmschleimhaut fanden sie vermehrt enterochromaffine Zellen, sehr viel mehr Mastzellen als bei gesunden Menschen und erhöhte Serotoninkonzentrationen.


Obwohl sich keine Entzündung des Darms nachweisen lässt, klagen die meisten Patienten über heftige Bauchschmerzen. Forscher vermuten, dass die höheren Serotoninmengen Schmerzrezeptoren anregen und so dem Gehirn Schmerzen vortäuschen. Wird die Serotoninkonzentration allerdings zu groß, schalten die Nerven aufgrund der Reizüberflutung ab, der Darm wird träge und die Betroffenen bekommen Verstopfung.

Für Patienten mit den Leitsymptomen Durchfall und Schmerzen nannte Schemann als neue Therapieansätze Clonidin oder den 5-HT3-Rezeptor-Antagonisten Alosetron, der allerdings nur in den USA unter dem Namen Lotronex® zugelassen ist. Bei Schmerzen und Verstopfung sei der 5-HT4-Rezeptor-Agonist Tegaserod (wie Zelnorm®, Zelmac®) das Mittel der Wahl. Desweiteren erforschten Wissenschaftler den Einsatz von 5-HT1B/D-Agonisten wie Sumatriptan, Opioiden, Mastzellstabilisatoren und Cannabinoiden. Als Phytopharmakon eigne sich Iberogast®.

Mikroflora verändert

Verschiedene Untersuchungen weisen darauf hin, dass die Mikroflora an der Entstehung einiger Reizdarmsymptome, insbesondere der Blähungen, beteiligt ist. Aufgrund der veränderten Darmflora entsteht im Darm der Patienten unter anderem zu viel Schwefelwasserstoff. Bifidobakterien und Laktobazillen träten beispielsweise bei den Erkrankten seltener auf als bei gesunden Menschen. Seriöse Studien hätten ergeben, dass Patienten von Probiotika profitierten, berichtete Schemann. Bifido bacterium infantis 35624 (in BifantisTM) normalisierte in einer Studie das Cytokinprofil und besserte die Symptome Blähungen und Schmerzen. Die lebenden Mikroorganismen sind als Zusätze in Joghurts und Trinknahrungen enthalten.

In den weiteren Vorträgen behandelten die Referenten unterschiedliche Störungen und Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts. PTA-Forum wird in der ersten Ausgabe des neuen Jahres über die Inhalte der Referate berichten. Professorin Dr. Petra Feyer aus Berlin informierte die Zuhörerinnen über die aktuellen Aspekte der antiemetischen Therapie, Professor Dr. Wolfgang Rösch aus Frankfurt am Main referierte über die Volkskrankheit Sodbrennen, Professor Dr. Hans Dieter Allescher aus Garmisch-Partenkirchen über Gastritis, Ulcusleiden und Refluxerkrankungen, Professor Dr. Achim Weizel aus Mannheim über Obstipation, Professor Dr. Hans Jörg Steinhardt aus Wangen über chronisch entzündliche Darmerkrankungen und Professor Dr. Thomas Weinke aus Potsdam über infektiöse Darmerkankungen und antibiotikaassoziierte Diarrhö.

Traditionsgemäß wählte Professor Dr. Hartmut Morck, Chefredakteur der Pharmazeutischen Zeitung, aus den neuen Arzneistoffen des Jahres 2006 die für die Apotheke wichtigsten Substanzen aus, erläuterte deren Wirkmechanismus und bewertete diese unter dem Aspekt, ob sie einen pharmazeutischen Fortschritt darstellen.