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Arzneimittelbewertung

Wie viel darf der Fortschritt kosten?

02.01.2008  16:05 Uhr

Arzneimittelbewertung

Wie viel darf der Fortschritt kosten?

Daniel Rücker, Stuttgart

Mit der letzten Gesundheitsreform hat die Bundesregierung eine Kosten-Nutzen-Bewertung für Arzneimittel beschlossen. In Zukunft müssen neue Arzneimittel beweisen, dass sie besser sind als alte. Das Ergebnis entscheidet auch über den späteren Preis.

Keine Frage: Wer krank ist, würde jeden Preis bezahlen, um wieder gesund zu werden. Deshalb erscheint die Diskussion darüber, wie viel ein erwiesenermaßen nützliches Medikament kosten darf, ein wenig absurd. Eine solidarische Krankenversicherung funktioniert jedoch anders. Hier zahlt nicht jeder für seine Medikamente, sondern auch (und oft vor allem) mit seinem Beitrag für die Medikamente der anderen. Das ist sozial, und kaum jemand stellt das System ernsthaft in Frage. Dieser Grundsatz senkt aber eindeutig die Bereitschaft des einzelnen Versicherten, höhere Beiträge zu zahlen, denn das Geld kommt nicht jedem Beitragszahler unmittelbar zugute. Darüber hinaus haben auch die Arbeitgeber kein gesteigertes Interesse daran, dass die Krankenkassen alles bezahlen, was medizinisch vertretbar ist. Dies würde höhere Beiträge bedeuten und damit höhere Lohnzusatzkosten, weil die Arbeitgeber die zweite Hälfte des Beitrags zahlen.

In der Konsequenz sind die Mittel der Gesetzlichen Krankenversicherung begrenzt und wegen der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland in den vergangenen Jahren immer knapper geworden. Gleichzeitig hat der medizinische Fortschritt dazu geführt, dass immer mehr Krankheiten behandelt werden können. Die Krankenkassen können jedoch nicht jede Leistung bezahlen und schon gar nicht zu jedem Preis. Sie müssen sparen. Das tun sie besonders gerne und konsequent bei Arzneimitteln.

Erste Negativliste

Im Jahr 1990 erstellten die Krankenkassen die erste Negativliste. Auf dieser Liste fanden sich Medikamente, die Experten als unwirtschaftlich einstuften. Diese Liste wuchs im Lauf der Jahre, vor allem weil die Kassen immer strengere Kriterien für die Erstattung anlegten. Standen zuerst nur wirkungsschwache Medikamente oder solche gegen leichte Erkrankungen auf der Liste, sind es nun auch unbestritten wirksame. So zahlen die Kassen seit 2004 fast alle OTC-Arzneimittel nicht mehr.

Ebenfalls seit 2004 untersucht das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) von Ärzten und Krankenkassen den Nutzen von neuen Arzneimitteln. Wenn die Hersteller dieser oft sehr teuren Medikamente keinen zusätzlichen Nutzen gegenüber zumeist preiswerteren älteren Präparaten nachweisen können, dann fallen auch diese aus dem Leistungskatalog heraus, selbst wenn sie noch einen Patentschutz haben.

Ein Fall, der für viel Wirbel gesorgt hat, waren die Insulinanaloga. Ihnen bescheinigte der Leiter des IQWiG, Professor Dr. Peter Sawicki, keinen Zusatznutzen gegenüber herkömmlichen Insulinen. Die Bewertung war stark umstritten, doch Sawicki, selbst Diabetologe, blieb bei seiner Bewertung. Er leitete das Gutachten an den Auftraggeber, den GBA, weiter. Dieser entschied, dass die Analoginsuline nur noch dann von der Krankenkasse bezahlt werden dürfen, wenn sie nicht teurer sind als Insulin. Die Hersteller wehrten sich ebenso heftig wie erfolglos gegen diese Entscheidung. Am Ende schlossen sie mit den Krankenkassen Verträge und gaben die Analoginsuline zum gewünschten Preis ab.

Im Jahr 2008 werden die Kriterien für die Erstattung von Medikamenten wohl noch höher geschraubt. Nach der Nutzen-Bewertung soll das IQWiG nun eine Kosten-Nutzen-Bewertung vornehmen. Dann geht es nicht mehr um die Frage, ob ein neues Medikament besser ist als die bisher auf dem Markt befindlichen, sondern wie viel der therapeutische Fortschritt wert ist. Wie viel mehr das neue Medikament im Vergleich zu den alten Präparaten kosten darf.

Nach den Vorgaben im SGB V muss das IQWiG beim Vergleich verschiedener Behandlungsmethoden sogar die nicht medikamentösen Therapien mit einbeziehen. Dabei ist die Untersuchung noch relativ leicht, die Bewertung des Ergebnisses sehr viel schwieriger.

Schwierige Aufgabe

Einfach ist der Fall, wenn ein neues Arzneimittel keinen Zusatznutzen hat. Dann wird es in die passende Festbetragsgruppe eingeordnet oder die Spitzenverbände legen einen Erstattungshöchstbetrag fest, und der Fall ist erledigt.

Schwieriger verhält es sich bei Medikamenten mit Zusatznutzen. Hier muss das IQWiG einschätzen, was dieser Fortschritt wert ist oder anders formuliert, wie viel die Gesellschaft für eine bessere Therapie ausgeben möchte. Zurzeit diskutieren das IQWiG und der GBA über Möglichkeiten, wie die angemessenen Kosten einer besseren Therapie ermittelt werden können.

Einen Ansatz erläuterte Sawicki auf einer Veranstaltung in Stuttgart: Kosten und Nutzen von bereits eingeführten und von der GKV erstatteten Therapien werden in ein Diagramm eingetragen. Daraus wird das Nutzen-Kosten-Verhältnis der bisherigen Therapien berechnet. Bietet eine neue Therapie ein besseres Verhältnis als die eingeführten Therapien, also mehr Nutzen je eingesetztem Euro, dann wird sie von den Kassen bezahlt, liegt sie darunter, dann muss der Hersteller den Preis senken. Lehnt dies der Hersteller ab, müssen die Patienten die Mehrkosten zahlen, falls sie auf dem neuen Medikament bestehen.

Sawicki sympathisiert zwar mit dieser Überlegung, optimal sei die Lösung jedoch nicht. Eine Konsequenz wäre: Ein GKV-Versicherter kann von einer neuen Therapie, die den etablierten Therapien nachweislich überlegen ist, nicht profitieren, wenn die Zusatzkosten über dem Zusatznutzen liegen und der Patient die Differenz, die seine Krankenkasse nicht erstattet, nicht bezahlen kann. Damit würde GKV-Versicherten ganz offiziell der Anspruch auf die bestmögliche Versorgung genommen. Der IQWiG-Chef sieht deshalb noch erheblichen Diskussionsbedarf. Sawicki: »Die Kosten-Nutzen-Bewertung und die Konsequenzen, die wir daraus ziehen, werden uns noch eine ganze Weile beschäftigen.«

Ein zweites Problem der Nutzen- und der Kosten-Nutzen-Berechnung ist der Zeitpunkt, zu dem sie stattfindet. In Deutschland sind neue Arzneimittel mit dem Markteintritt erstattungsfähig. Die Krankenkassen würden deshalb gerne so schnell wie möglich die Präparate herausfischen, die nur teuer, aber nicht besonders gut sind.

Löwenanteil der Ausgaben

Da bei uns im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern der Hersteller den Preis für ein neues, patentgeschütztes Arzneimittel selbst festlegen kann, sind diese Medikamente üblicherweise sehr teuer. Sie verursachen regelmäßig den Löwenanteil der Ausgabensteigerungen bei Arzneimitteln.

Die Studien, die die Hersteller für die Zulassung ihrer neuen Medikamente gemacht haben, eignen sich nicht zur Nutzen- oder Kosten-Nutzen-Bewertung. Dafür sind längerfristige Studien nötig. Deshalb fordert die Pharmaindustrie, dass die Bewertung erst mehrere Jahre, am besten fünf, nach der Markteinführung vorgenommen wird. Die Kassen lehnen diesen Vorschlag ab. Sie müssten dann über Jahre für eine teure Therapie bezahlen, die irgendwann als nicht nützlich entlarvt wird. Und auch aus Sicht der Versicherten ist diese Entscheidung nicht leicht. Wer krank ist, möchte mit dem besten Medikament behandelt werden und das sofort. Wer gesund ist, möchte nicht, dass unnötig Geld für wenig nützliche Medikamente ausgegeben wird.

Was am Ende dabei herauskommt, lässt sich noch nicht absehen. Sicher ist dagegen, dass um das Ergebnis wieder heftig gestritten wird.

E-Mail-Adresse des Verfassers:
ruecker(at)govi.de