Schmerz als täglicher Begleiter |
30.06.2017 09:49 Uhr |
Von Edith Schettler / Einfache Verletzungen an Armen und Beinen heilen in der Regel innerhalb kurzer Zeit aus. Lassen die Schmerzen jedoch auch nach Wochen noch nicht nach, schwillt das betroffene Areal an und zeigen sich weitere Zeichen einer Entzündung, könnten die Patienten an einem komplexen regionalen Schmerzsyndrom erkrankt sein.
Nicht nur nach Verletzungen wie Prellungen, Verstauchungen oder Knochenfrakturen, auch nach Operationen an den Extremitäten kann sich das komplexe regionale Schmerzsyndrom (CRPS, Complex regional pain syndrome) einstellen. Je nachdem, ob im Vorfeld Nerven verletzt wurden, unterscheiden Mediziner zwei Krankheitstypen: Typ I ohne vorangegangene Nervenschädigung und Typ II nach Nervenverletzung, beispielsweise nach Frakturen oder Operationen.
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Der Krankheitstyp I ist auch unter dem Namen Morbus Sudeck bekannt. Die Bezeichnung »komplexes regionales Schmerzsyndrom« beschreibt die entscheidenden Merkmale der Erkrankung: die Komplexität der Symptome in allen drei Bereichen des Nervensystems, dem sensiblen, dem motorischen und dem vegetativen Teil, und die regionale Ausbreitung des Schmerzes innerhalb der Extremität. In aller Regel sind die Hände oder Füße mit betroffen, auch wenn ursprünglich nur Unterarm oder Unterschenkel verletzt wurden.
Der deutsche Chirurg Paul Sudeck (1866–1945) beschrieb als erster drei Stadien der Erkrankung. Da jedoch der Krankheitsverlauf sehr individuell ist und nicht immer der Sudeckschen Einteilung entspricht, verwenden Ärzte diese heute nicht mehr. Sie eignet sich jedoch nach wie vor gut, um die Symptome zu beschreiben. Das erste Krankheitsstadium in den drei Monaten nach der Verletzung kennzeichnen laut Sudeck akute Entzündungssymptome: Rötung, Schwellung, Schmerz, eingeschränkte Funktion und eine um bis zu 10 Grad Celsius erhöhte Hauttemperatur des betroffenen Areals.
Viele Patienten schwitzen außerdem übermäßig und beobachten, dass Haare und Nägel vermehrt wachsen. In den nächsten drei bis sechs Monaten, dem zweiten Krankheitsstadium, gehen die Entzündungserscheinungen zurück, aber die betroffenen Gelenke versteifen, weil Gewebe abgebaut wird. Im Endstadium, das nach etwa sechs bis zwölf Monaten erreicht ist, zerstören osteoporotische Prozesse die Knochenstruktur, die betroffene Extremität versteift und verliert ihre Funktion komplett.
Hauptsymptom in allen drei Stadien der Erkrankung ist der ständige Schmerz. Er lässt auch in Ruhe nicht nach und steigert sich oft schon bei nur leichtesten Berührungen der Haut ins Unerträgliche. Die Schmerzphasen wechseln sich häufig mit Phasen der Taubheit der Extremität ab. Die Patienten leiden zunächst unter motorischen Einschränkungen, im Verlauf der Krankheit nimmt mehr und mehr auch die Beweglichkeit ab. Der Verlust von Kraft und Mobilität lässt sich nicht wieder rückgängig machen. Daher gilt: Je früher die Therapie beginnt, umso besser sind ihre Ergebnisse.
Ein Überschuss an Substanz P verursacht Ödeme.
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In Deutschland erkranken jährlich etwa 10 000 Menschen an CRPS, das sind zwischen 2 und 5 Prozent der Patienten mit Verletzungen an den Extremitäten. Die größte Gruppe der Erkrankten stellen Frauen in der Menopause, doch auch Männer und bereits Kinder können betroffen sein.
Neuronen und Entzündungsmediatoren
Die Ursachen der Erkrankung sind nicht schlüssig aufgeklärt. Die Wissenschaftler können im Einzelnen noch nicht nachvollziehen, warum bei einigen Patienten die Wundheilung derart gestört ist. Sudeck nannte die Krankheit »entgleiste Heilentzündung«. Zurzeit diskutieren Mediziner einen Mechanismus, nach dem die Entzündungsmediatoren, die im Verlauf der Wundheilung verstärkt gebildet werden, nicht oder nur verzögert abgebaut werden. Das betrifft vor allem die Substanz P, ein Neuropeptid, das sowohl in Leukozyten als auch in Neuronen vorkommt. Ein Überschuss der Substanz P erweitert die Blutgefäße, sie werden durchlässiger, Ödeme entstehen und Leukozyten wandern vermehrt ins Gewebe. Außerdem steigert das Neuropeptid die Empfindlichkeit der Schmerzneurone im Rückenmark. In den Synapsen bilden sich vermehrt Ionenkanäle und Rezeptoren. Damit sinkt die Reizschwelle – eine wichtige Vorraussetzung für die Prägung des Schmerzgedächtnisses. Der Schmerz verselbständigt sich und wird chronisch.
Lange Zeit diskutierten Experten die Rolle der Psyche für den Ausbruch der Erkrankung. So sollte eine labile und depressive Persönlichkeitsstruktur die Krankheit begünstigen. Diese Einschätzung gilt heute als überholt. Vielmehr belastet der starke chronische Schmerz die Betroffenen psychisch enorm und führt zu Depressionen und Angstzuständen, die den weiteren Verlauf ungünstig beeinflussen und die Krankheit verschlimmern können.
Ausschluss und Diagnose
Bei der Diagnose orientiert sich der Arzt in erster Linie am Beschwerdebild. Dazu müssen die sogenannten Budapest-Kriterien der Internationalen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (IASP) erfüllt sein. Der Patient muss mindestens ein Symptom aus drei der vier folgenden Kategorien nennen, und bei der Untersuchung muss der Arzt jeweils mindestens ein Symptom aus zwei der vier Kategorien feststellen:
Physiotherapie und Medikamente helfen erkrankten Kindern.
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Zudem muss der Patient an chronischen Schmerzen leiden, die weder durch das vorangegangene Trauma noch durch eine andere Diagnose erklärt werden können.
Mithilfe bildgebender Verfahren schließt der Arzt andere Krankheitsursachen wie Arthrosen, rheumatische Erkrankungen, Thrombosen oder Nervenentzündungen aus.
Bis sie im Ausschlussverfahren endlich die korrekte Diagnose erhalten, vergeht für viele Patienten häufig lange Zeit. In ihren Leitlinien zur Diagnostik und Therapie des CRPS betont die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF), dass »der Erfolg der Behandlung des CRPS wahrscheinlich davon abhängt, möglichst frühzeitig eine kompetente Therapie bereitzustellen, um in Abhängigkeit vom Verlauf und dem Schweregrad die Behandlung der Schmerzen mit der des Ödems, der psychischen Begleitstörung und des Funktionsverlustes zu verbinden«. Mit einer effektiven und rechtzeitigen Therapie könnten über die Hälfte der Betroffenen vollständig geheilt werden, so die Experten.
Physio- und Pharmakotherapie
Damit sich erst gar kein Schmerzgedächtnis ausbildet, spielt die aktive Mitarbeit der CRPS-Patienten eine entscheidende Rolle. Nach einer gründlichen Aufklärung des Patienten über seine Erkrankung empfiehlt die AWMF zunächst physiotherapeutische Maßnahmen und eine orale Schmerztherapie. Für die Therapie spielt neben den klassischen Analgetika vor allem Gabapentin eine wichtige Rolle. Es lindert neuropathische Schmerzen. Bisphosphonate verhindern die Osteoporose, sollten allerdings nur kurzzeitig und in möglichst niedriger Dosierung eingesetzt werden. Ebenfalls nur für kurze Zeit setzen Ärzte Prednisolon ein, um die Entzündung effektiv zu hemmen.
Gute Erfahrungen haben niederländische Mediziner mit der topischen Anwendung von Dimethylsulfoxid (DMSO) gemacht: Eine 50-prozentige Vaselinzubereitung wird fünfmal täglich aufgetragen, kann allerdings Hautirritationen auslösen. Eine weitere Nebenwirkung des Arzneistoffes, der knoblauchähnliche Geruch, ist harmlos und verschwindet nach Absetzen der Salbe wieder. Die AWMF empfiehlt die Anwendung der DMSO-Zubereitung jedoch nicht, vor allem, weil derzeit ein kanzerogenes Risiko nicht auszuschließen ist.
Lindern die genannten Behandlungsverfahren die Schmerzen nicht ausreichend oder helfen sie den Patienten überhaupt nicht, erwägen Ärzte die sogenannte interventionelle Therapie. In diesen Verfahren injizieren speziell ausgebildete Mediziner den Patienten Lokalanästhetika zur Sympathikusblockade, sodass die Schmerzen schnell und deutlich gelindert werden. Die intrathekale Applikation von Baclofen, das heißt in den Liquorraum, wird ebenfalls nur in speziellen Schmerzzentren durchgeführt. In manchen Fällen gelingt es im Zusammenspiel zwischen Patient, Psychotherapeuten, Neurologen und Schmerztherapeuten, das Schmerzgedächtnis zu löschen.
Um CRPS möglichst erfolgreich zu behandeln, bedarf es grundsätzlich der engen Zusammenarbeit von Spezialisten der verschiedensten Fachgebiete. Speziell ausgebildete Pädiater begleiten die Therapie bei Kindern, die sich in der Regel auf Physio- und Pharmakotherapie beschränkt. Bei den kleinen Patienten sind die Heilungschancen gut, sodass invasive Therapiemaßnahmen meist nicht nötig und sogar kontraindiziert sind. /