Hilfe bei seltenen Leiden |
14.07.2017 12:09 Uhr |
Von Carina Steyer / Als Waisen der Medizin werden Erkrankungen bezeichnet, die so selten sind, dass sich Forschungstätigkeit und Arzneimittelentwicklung für Pharmafirmen kaum lohnen. Finanzielle und administrative Anreize sollen pharmazeutische Entwicklungsprojekte antreiben und die Situation der Betroffenen verbessern.
In Europa gilt eine Krankheit als selten, wenn sie bei weniger als 5 von 10 000 Menschen auftritt. Derzeit sind etwa 8000 seltene Erkrankungen bekannt, von denen in Deutschland rund vier Millionen Menschen betroffen sind. Gut 80 Prozent der seltenen Erkrankungen sind genetischen Ursprungs. Sie treten bereits im Säuglings- oder frühen Kindesalter auf, verlaufen meist chronisch und gehen mit dauerhaften, teils schweren Beeinträchtigungen einher und/oder verkürzen die Lebenserwartung.
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Aufgrund des seltenen Auftretens und des vielschichtigen Beschwerdebilds der Krankheiten ist meist schon die Diagnose eine Herausforderung. Oft existiert nur bruchstückhaftes Wissen über die Erkrankung oder es fehlt der Zugang zu Spezialeinrichtungen.
Kleiner Markt
Unter dem wirtschaftlichen Aspekt ist es für pharmazeutische Unternehmen kaum interessant, ein Arzneimittel für eine seltene Erkrankung zu entwickeln. Der Markt ist entsprechend klein und die Kosten für Forschung und Entwicklung können nach der Marktzulassung schwer gedeckt werden. Um dem entgegenzuwirken, ist im Jahr 2000 die Orphan-Drugs-Verordnung der Europäischen Union (EU) in Kraft getreten.
Seither können pharmazeutische Unternehmen während der Entwicklung eines Arzneimittels gegen eine seltene Erkrankung beim Committee for Orphan Medicinal Products (COMP) der Europäischen Arzneimittelagentur EMA den Orphan-Drug-Status beantragen. Das COMP erstellt daraufhin ein Gutachten. Die Entscheidung für oder gegen den Orphan-Drug-Status trifft anschließend die Europäische Kommission. Erfüllt das Entwicklungsprojekt alle notwendigen Kriterien (siehe Kasten), erhält es den Orphan-Drug-Status und das Unternehmen kann von einigen Vorteilen profitieren. Dazu gehören beispielsweise niedrigere Zulassungsgebühren, ein bevorzugter Zugang zu nationalen Förderprogrammen oder die gebührenfreie wissenschaftliche Beratung durch die EMA, bei der das Unternehmen Unterstützung bei der Planung klinischer Studien oder dem Erstellen des Zulassungsantrags erhält.
Nur mit Zusatznutzen
Die Anforderungen an Arzneimittel mit Orphan-Drug-Status unterscheiden sich hinsichtlich der Wirksamkeit, Verträglichkeit und Qualität nicht von Medikamenten für häufige Erkrankungen. Die Durchführung klinischer Studien gestaltet sich aufgrund der wenigen Patienten jedoch meist wesentlich schwieriger und erfordert spezielle Studiendesigns, um aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten. Die Zulassung kann deshalb mit der Auflage versehen werden, weitere Behandlungsdaten aus der Praxis zu sammeln, auszuwerten und der Arzneimittelbehörde zu übermitteln.
Die Prüfung der Zulassungsunterlagen für ein Orphan Drug obliegt dem Committee for Medicinal Products for Human Use (CHMP) der EMA. Zusätzlich entscheidet aber auch das COMP noch einmal über den tatsächlichen Zusatznutzen des Arzneimittels. Anders als bei der Beantragung des Orphan-Drug-Status wird nun nicht mehr der theoretische, sondern der tatsächliche Zusatznutzen bewertet. Dabei wird nicht nur die Überlegenheit gegenüber bisher verfügbaren Therapiemöglichkeiten betrachtet. Es kann sich beispielsweise auch ein Zusatznutzen ergeben, wenn ein Medikament für die gleiche Indikation aufgrund von Produktionsschwierigkeiten nicht verfügbar ist. Nach positiver Nutzen-Risiko-Bewertung und überprüftem Zusatznutzen spricht das CHMP eine Empfehlung aus. Erteilt wird die Zulassung durch die Europäische Kommission.
Wirkstoff | Indikation | Betroffene in der EU |
---|---|---|
Cerliponase alfa (Brineura®) | Neuronale Ceroid-Lipofuszinose: Mangel an Tripeptidylpeptidase 1, einem Enzym zum Proteinabbau in den Zellen | 15 000 |
Chenodesoxycholsäure (Chenodesoxycholsäure Leadiant) | Zerebrotendinöse Xanthomatose: Störung der Gallensaftbildung aufgrund eines Sterol-27-Hydroxylase-Mangels | 10 000 |
Chlormethin (Ledaga®) | Kutanes T-Zell-Lymphom (Typ Mycosis fungoides): Krebs des Lymphsystems, Überproduktion von T-Zellen | 132 000 |
Dinutuximab beta (Dinutuximab beta Apeiron®) | Hochrisiko-Neuroblastom: Tumor der Nervenzellen; häufig im Bauch oder an der Wirbelsäule | 51 000 |
Mercaptamin (Cystadrops®) | Cystinablagerungen in der Hornhaut | 5000 |
Nusinersen (Spinraza®) | 5q-assoziierte spinale Muskelatrophie: Erkrankung der Motoneuronen durch Mangel an SMN-Protein | 20 000 |
rekombinantes Parathyroidhormon (Natpar®) | Hypoparathyreoidismus: Unterfunktion der Nebenschilddrüse | 180 000 |
Mit der Zulassung erhalten Orphan Drugs in der EU eine zehnjährige, Kinderarzneimittel eine zwölfjährige Marktexklusivität. In diesem Zeitraum wird kein anderes wirkstoffgleiches oder ähnliches Medikament zugelassen, es sei denn, es ist wirksamer, verträglicher oder überbrückt einen Versorgungsengpass. Fünf Jahre nach der Markteinführung wird überprüft, ob das Arzneimittel noch den Kriterien des Orphan-Drug-Status entspricht. Ist das nicht der Fall, wird die Marktexklusivität auf sechs Jahre reduziert. Soll das Medikament zusätzlich für eine häufigere Erkrankung zugelassen werden, erlischt der Orphan-Drug-Status. Es ist lediglich möglich, dass ein Wirkstoff sowohl in einem Orphan Drug als auch in einem anderen Medikament eingesetzt wird, wenn beide voneinander getrennte Anwendungsgebiete, Entwicklungs- und Zulassungsverfahren haben sowie getrennt vermarktet werden.
Ausnahme bei AMNOG
In Deutschland ist der Marktzugang von neuen Arzneimitteln zusätzlich durch das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) geregelt. Ein pharmazeutisches Unternehmen muss belegen, dass seine Entwicklung einen Zusatznutzen gegenüber der Vergleichstherapie aufweist. Hier bilden Orphan Drugs eine Ausnahme. Bei ihnen gilt der Zusatznutzen bereits durch die Zulassung als belegt, es muss lediglich noch das Ausmaß nachgewiesen und vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) bestätigt werden. Anschließend kann der Hersteller mit dem Spitzenverband der Krankenkassen über den Erstattungsbetrag für das Medikament verhandeln. Sobald ein Orphan Drug einen Jahresumsatz von mehr als 50 Millionen Euro erwirtschaftet, erlischt diese Regelung. Rechtlich wird es dann wie ein normales Arzneimittel behandelt und muss die Nutzenbewertung noch einmal durchlaufen.
Noch nicht genug
Die Orphan-Drugs-Verordnung hat die Forschung und Arzneimittelentwicklung im Bereich der seltenen Erkrankungen vorangetrieben. Heute entfallen etwa ein Fünftel der Marktneueinführungen auf Orphan Drugs. Insgesamt stehen in der EU derzeit 96 Orphan Drugs zur Verfügung, dazu kommen 39 Medikamente, bei denen der Orphan-Drug-Status abgelaufen ist oder zurückgegeben wurde. Laut dem Verband Forschender Arzneimittelhersteller (vfa) befanden sich im Juni 2017 etwa 1700 Medikamente mit Orphan-Drug-Status in der Entwicklung.
Hilfe und Beratung
Bei 8000 seltenen Erkrankungen ist dies vergleichsweise wenig. Bisher gelten lediglich 100 seltene Krankheiten als behandelbar. Um die Patientenversorgung weiter zu verbessern, haben sich auf nationaler Ebene Akteure des Gesundheitswesens unter Leitung des Bundesministeriums für Gesundheit, des Bundesministeriums für Bildung und Forschung sowie der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen zum Nationalen Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) zusammengeschlossen. Darüber hinaus engagieren sich zahlreiche Verbände, Initiativen und Selbsthilfegruppen, die konkrete Hilfestellung und Beratung für die Betroffenen einzelner Krankheiten anbieten. /