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Krebsentstehung

Die Rolle des Lebensstils

31.07.2017  14:21 Uhr

Von Isabel Weinert / Lebensstil, Umwelt, Vererbung, Alter und Zufall – diese fünf Faktoren entscheiden wesentlich mit darüber, ob ein Mensch an Krebs erkrankt. Wie man das eigene Risiko durch den Lebensstil senken kann, erklärte der Epidemiologe Professor Dr. Rudolf Kaaks, Deutsches Krebsforschungszentrum Heidelberg, im Gespräch mit PTA-Forum.

PTA-Forum: Was weist grundlegend darauf hin, dass einige Tumoren auch auf das Konto des Lebensstils ­gehen?

Kaaks: Das Auftreten bestimmter Krebsarten weltweit zeigt bis zu zehnfache Unterschiede. So gibt es Länder, in denen zum Beispiel Brust-, Kolorektal-, Prostata-, Nierenzell- und Gebärmutterkrebs sehr häufig sind – vor ­allem in den Industrieländern. Dem gegenüber stehen Länder und Regionen, wo diese Krebsarten in der Vergangenheit bis zu zehnfach weniger auftraten. Dabei handelt es sich zwar um ältere Basisdaten, sie stimmen aber noch heute. Dass diese Unterschiede hauptsächlich durch nicht genetische, das heißt, durch Umwelt- und Verhaltensfaktoren bestimmt werden, weiß man. Mit unserer Forschung versuchen wir herauszufinden, welche Lebensstilfaktoren sich wie genau auswirken.

PTA-Forum: Wie gehen Wissenschaftler vor, um genau abschätzen zu können, wie groß das Risiko durch einen bestimmten Faktor ist, nehmen wir das Rauchen.

Kaaks: Wir schätzen das attributable Risiko, also prozentual gesehen den ­Anteil am Gesamtauftreten einer bestimmten Krebsart, den man bis zu ­einem standardisierten Alter einer bestimmten Exposition zuschreiben kann. Zum Beispiel – und das ist unumstritten – sind beinahe 20 Prozent aller Krebsfälle, etwa in England und Deutschland, dem Rauchen zuzuschreiben. Würde niemand rauchen, gäbe es von allen Krebsarten insgesamt etwa 20 Prozent weniger. Doch das ist natürlich nicht für alle Krebsarten gleich. Einige hängen extrem vom Rauchen ab, andere nur moderat oder gar nicht. ­Einen starken Zusammenhang gibt es mit Lungenkrebs: 80 Prozent aller Fälle lassen sich auf das Rauchen zurückführen. Das gilt auch für Rachen- und Mundhöhlenkrebs. Speiseröhrenkrebs entsteht zu 90 Prozent aus der Kombination von Rauchen und Alkohol. Weitere Krebsarten, für die das Risiko mit dem Rauchen steigt, sind zum Beispiel Tumoren der Nieren, der Bauchspeicheldrüse und der Harnblase.

PTA-Forum: Wie wirkt sich Alkoholkonsum auf das Krebsrisiko aus?

Kaaks: Alkohol ist ein extrem starker Risikofaktor für Mundhöhle, Rachen und Speiseröhre – auch unabhängig vom Rauchen. Betrachtet man jedoch Menschen, die sowohl stark rauchen als auch viel trinken und vergleicht sie mit Menschen, die sehr wenig Alkohol trinken und gar nicht rauchen, dann liegt das relative Risiko, an diesen Krebsarten zu erkranken, für Erstere 50- bis 100-fach höher.

PTA-Forum: Welche Rolle spielen Viren bei Tumoren des Mund-Rachen-Raumes?

Kaaks: Papillomaviren verursachen nicht nur Gebärmutterhalskrebs, sondern auch Tumoren im Mund-Rachen-Raum. Dorthin gelangen die Viren durch Oralverkehr. Heute besteht die Möglichkeit, dass sich junge Mädchen vor dem ersten Geschlechtsverkehr gegen die virulentesten Typen von Papilloma impfen lassen. Damit sind sie vor einer Infektion geschützt. Mund-­Rachen-Tumoren, die nicht infolge des Rauchens und Alkoholkonsums entstehen, sind zu einem erheblichen Teil auf Papillomaviren zurückzuführen.

PTA-Forum: Eine große Bedeutung in der Tumorentstehung scheint auch Fehlernährung und damit oft einhergehendem Übergewicht zuzukommen. Was ist hier gesichert?

Kaaks: Wir gehen davon aus, dass etwa 40 Prozent aller Fälle des sogenannten Adeno-Carcinoms, einer Subart von Tumoren, die man vor allem im unteren Bereich der Speiseröhre findet und im oberen Bereich des Magens, mit Übergewicht zusammenhängen. Diese Tumorart steigt auch in Bevölkerungen an, in denen es immer mehr übergewichtige Menschen gibt.

Im Zusammenhang mit Übergewicht treten besonders häufig auch ­Kolonkrebs, Kolorektalkrebs und Brustkrebs auf. Letzterer allerdings nur bei postmenopausalen übergewichtigen Frauen. Vor der Menopause scheint ein wenig Übergewicht eher vor Brustkrebs zu schützen. Danach ist es besser, schlank zu sein. Denn bei übergewichtigen Frauen nach der Menopause liegt das Brustkrebs-Risiko ähnlich hoch wie bei schlanken Hormonnutzerinnen im ­Rahmen einer Hormonersatz-Therapie. Vor allem Östrogenrezeptor-positive Tumoren stehen damit in Zusam­menhang.

Für Gebärmutterkrebs zeigt sich der Zusammenhang mit Übergewicht noch deutlich stärker. Ich denke, dass in Deutschland wahrscheinlich die Hälfte aller Fälle von Gebärmutterkrebs auf Adipositas zurückzuführen ist; für Brustkrebs wird dieser Anteil auf 15 bis 20 Prozent geschätzt.

PTA-Forum: Was macht Körperfett so gefährlich?

Kaaks: Zum einen setzt es Östrogene frei, und ein höherer Östrogenspiegel fördert das Wachstum hormonsensibler Tumoren. Zum anderen verändert es den Stoffwechsel, lokal im Gewebe und auch in der Blutbahn. Die Entzündungswerte steigen zum Beispiel an, und die Zellen reagieren geringer auf Insulin. Typ-2-Diabetes, der durch Insulin­resistenz gekennzeichnet ist und meist mit Übergewicht und erhöhtem Insulinspiegel einhergeht, ist mit einem erhöhten Risiko für mehrere Krebsarten, wie Tumoren des Dickdarms, der Nieren oder auch der Gebärmutter assoziiert.

PTA-Forum: Gilt das auch für Pankreastumoren?

Kaaks: Hier spielen nicht nur Adipositas und periphere Insulinresistenz eine Rolle, sondern auch pankreaseigene, inter­ne physiologische Mechanismen. Wir wissen heute, dass sich bereits weit im Vorfeld eines Tumors in der Bauchspeicheldrüse Entzündungen innerhalb des Pankreas abspielen, die dann nur noch verstärkt werden, wenn Übergewicht hinzukommt.

PTA-Forum: Der richtigen Ernährung messen viele Menschen hierzulande eine wesentliche Bedeutung bei, auch, um sich vor Krebs zu schützen. Liegen sie richtig?

Kaaks: In prospektiven Kohortenstudien, in denen man eine Vielzahl von Menschen nach deren Ernährungsgewohnheiten befragt und später, wenn man sieht, wer davon Krebs entwickelte, nachschaut, wie er sich laut Befragung ernährt hatte, sieht man für die Ernährung nicht ganz so viel Eindeutiges. So ist etwa die ursprüngliche Einschätzung, ein hoher Obst- und Gemüseverzehr senke das Krebsrisiko um bis zu 50 Prozent, nicht sehr stark belegt. Da eine bevorzugt pflanzliche Ernährung aber das Herz-Kreislauf-Risiko verringert, bleibt die Empfehlung, viel Gemüse und auch Obst zu essen.

Eindeutig stellt sich hingegen der Zusammenhang zwischen dem Konsum von rotem Fleisch und Wurstwaren mit erhöhten Krebsrisiken dar, ohne, dass die genauen Mechanismen bekannt sind. Für Darmkrebs ist relativ eindeutig, dass ein hoher Ballaststoffanteil in der Nahrung schützt.

PTA-Forum: Ein weiterer Faktor, den jeder Mensch selbst beeinflussen kann, heißt Bewegung. Welcher Stellenwert kommt ihr zu, um das individuelle Krebsrisiko zu verringern?

Kaaks: Körperlich fit zu bleiben und sich zu bewegen, wirkt sich auf jeden Fall positiv aus. Das Ausmaß wird meines Erachtens eher noch unterschätzt. In vielen Studien zeigt sich eine inverse Beziehung zwischen Bewegung und Krebsarten wie Brust- und Darmkrebs. Für uns Epidemiologen bleibt allerdings die Frage, bringt wirklich die Bewegung selbst den Effekt, oder zeigt sie nur an, dass Menschen, die sich bewegen, einfach noch fit und gesund genug dafür sind? Was Ursache und was Folge ist, lässt sich deshalb schwer sagen, aber vieles weist darauf hin, dass Sport die Lebens­zeit verlängert und das Risiko senkt, an Krebs zu erkranken.

PTA-Forum: Welche Rolle spielt der Zufall in der Entstehung von Krebserkrankungen?

Kaaks: Der Krebsbiologe Bert Vogelstein und der Biostatistiker Cristian Toma­setti schreiben zwei Drittel der Mutationen in 32 untersuchten Krebsarten dem Zufall bei der Vermehrung körpereigener, gesunder Stammzellen zu. Sie haben die durchschnittliche Krebsinzidenz zum Beispiel für Dickdarmkrebs im Vergleich zu Dünndarmkrebs zurückgeführt auf die Zahl der Stammzellen, die sich im Gewebe dieser unterschiedlichen Organe feststellen lassen. Das kann tatsächlich belegen, dass das Risiko, die eine oder andere Krebsart zu bekommen, irgendwie damit korreliert, wie viele Stammzellen es in einem Organ gibt. Allerdings lässt sich daraus keineswegs der Schluss ziehen, dass Lebensstilfaktoren darüber hinaus nicht noch einen sehr großen weiteren Einfluss haben. Denn Vogelstein und Mitarbeiter haben völlig außer Acht gelassen, dass Lebensstil und weitere Faktoren zum Beispiel die Zahl nicht differenzierter Stammzellen beeinflussen könnten, auch wenn das noch nicht sicher belegt ist. Sie haben zudem die individuelle Variabilität der Stammzellzahl pro Organtyp gar nicht in Betracht gezogen. Das ist ein Fehler. Außerdem kann es auch eine Rolle spielen, dass sogar bei festgelegter Zahl von Stammzellen die Geschwindigkeit, mit der sich die Zellen teilen und mit der Mutationen auftreten können, vom Lebensstil mit beeinflusst wird.

PTA-Forum: Wie sieht der Vorteil in Lebensjahren aus, wenn ein Mensch einen vernünftigen Lebensstil pflegt?

Kaaks: In einer großen Studie, der EPIC-Heidelberg Kohorte mit 25 500 Studien­teilnehmern, haben wir einmal errechnet, was für einen Einfluss Lebensstilfaktoren auf die Lebenserwartung haben können. Dabei kamen wir zu dem Schluss, dass ein 40 Jahre alter Mann, der viel raucht, viel trinkt, übergewichtig ist, zu viel Fleisch isst und sich wenig bewegt, noch etwa 30 Jahre lang lebt, also im Schnitt um das 70. Lebensjahr herum verstirbt. Jemand, der all diese Risiken nicht hat, wird hingegen über 85, er lebt etwa 17 Jahre länger! Von diesen 17 Jahren sind alleine neun Jahre dem Rauchen zuzuschreiben. Für Frauen sieht das ähnlich aus. /

Mehr Lungenkrebs ­ bei Frauen

Bereits in den 90er Jahren stiegen Erkrankungs- und Sterberaten bei Frauen an. Einer Studie von Forschern aus Ita­lien, der Schweiz und den USA zufol­ge erhöht sich die Lungenkrebs-Sterbe­rate bei Frauen in 2017 um knapp neun Prozent, verglichen mit 2012. Bei Männern hingegen sinkt sie in ähnlichem Maße. Der Grund: ein Generationenunterschied im Rauchverhalten von Männern und Frauen. Von den zwischen 1935 und 1960 geborenen Frauen raucht(e) die Hälfte eines Jahrgangs regelmäßig. Die Folgen zeigen sich nun im deutlichen ­Anstieg tabak­bedingter Erkran­kungen. Ein Trend, der wegen der geburten­starken Jahrgänge min­des­tens noch das kommende Jahrzehnt anhalten wird.