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Schwindel

Aus dem Gleichgewicht

23.10.2013  19:27 Uhr

Von Ursula Sellerberg / Schwindel ist in den meisten Fällen kein Grund zur Panik, denn sehr häufig liegen den Attacken keine schwerwiegenden Erkrankungen zugrunde. Dennoch ängstigt und belastet der Kontrollverlust die Betroffenen sehr. Zur Abklärung der Ursache sollten sie möglichst umgehend einen Arzt aufsuchen.

Das Gehirn benötigt ständig Informationen, um den Körper im Gleichgewicht zu halten. Die Informationen dazu liefern drei verschiedene Systeme an das Gehirn: das Gleichgewichtsorgan im Innenohr (Vestibularapparat), die Augen und die Rezeptoren der sogenannten Tiefenwahrnehmung. Schwindel tritt auf, wenn die Informationen der drei Systeme widersprüchlich sind oder die verarbeitende Gehirnregion geschädigt ist.

Da Schwindel viele Ursachen haben kann, steht bei der Diagnose die Krankengeschichte im Vordergrund. Vor dem Arztbesuch sollten die Patienten ihre Beschwerden genau beobachten, damit sie diese exakt beschreiben können. Ein Drehschwindel ähnelt dem Gefühl beim Karussellfahren oder Walzertanzen: Alles dreht sich um einen herum und der Betroffene hat das Gefühl, sein Gleichgewicht zu verlieren. Drehschwindel kennen Betrunkene meist gut. Beim Schwankschwindel gehen und stehen die Betroffenen unsicher oder haben das Gefühl, hin und her zu schwanken, ähnlich wie beim Bootfahren. Liftschwindel fühlt sich an wie das Aufwärts- oder Abwärtsfahren mit einem schnellen Fahrstuhl. Schwindel kann sich auch als Benommenheit oder diffuse Unsicherheit beim Gehen zeigen.

Die Schwindelattacken dauern zwischen einigen Sekunden über Stunden bis Wochen oder Jahre. Tritt der Schwindel in Attacken auf, sollten die Patienten ihrem Arzt die minimale und maximale Dauer sowie die Häufigkeit mitteilen. Ein plötzlicher Schwindelanfall kann durch unterschiedliche Bewegungen ausgelöst werden: das Drehen des Kopfes, Vor- oder Zurückbeugen, Gehen, Husten, Niesen oder laute Töne.

Schwindel wird manchmal von anderen Symptomen begleitet, beispielsweise Hörstörungen und Ohrgeräusche oder zusätzlichen neurologischen Beschwerden. Einige Patienten nehmen Scheinbewegungen der Umwelt wahr oder bekommen Kopfschmerzen. Diese Details – Art des Schwindels, Häufigkeit und Dauer, Auslöser und Begleitsymptome – helfen dem Arzt, die Art des Schwindels zu erkennen, weitere Untersuchungen durchzuführen beziehungsweise eine gezielte Behandlung einzuleiten.

Steinchen auf Abwegen

Am häufigsten und am besten behandelbar ist der gutartige Lagerungsschwindel. Vor allem ältere Menschen sind davon oft betroffen. Der Lagerungsschwindel kann ohne erkennbare Ursache auftreten, aber auch auf eine Kopfverletzung oder eine Erkrankung des Innenohrs hinweisen. Typisch für diese Art des Schwindels sind kurze Drehschwindel-Attacken, die durch eine Lagerungsänderung ausgelöst werden, beispielsweise durch Aufrichten oder Herumdrehen im Bett. Begleitet wird der Drehschwindel manchmal durch Übelkeit und/oder Erbrechen.

Der gutartige Lagerungsschwindel wird behandelt, indem Kopf und Oberkörper des Patienten schwungvoll in einer festgelegten Reihenfolge bewegt werden. Ziel dieses Manövers, zum Beispiel des Befreiungsmanövers nach Semont, ist es, das Innenohr zu reizen und »verirrte« Gleichgewichtssteinchen (Otolithen) wieder an die Stelle im Innenohr zu bringen, an die sie gehören. Diese körpereigenen kristallinen Steinchen befinden sich in einer gallertartigen Masse in den Vorhofsäckchen des Gleichgewichtsorgans. Durch Erschütterung oder Alterung können sie daraus gelöst werden und sich unkontrolliert im Innenohr bewegen. Geraten sie in einen der drei Bogengänge des Innenohrs, wird das Gleichgewichtsorgan bei schnellen Kopfdrehbewegungen plötzlich heftig erregt.

Das Gefühl des Drehschwindels entsteht, weil gleichzeitig keine dazu passende Körperbewegung erfolgt. Durch das Manöver des Therapeuten gelangen die Otholiten wieder an die richtige Stelle im Innenohr. In den meisten Fällen beseitigt ein einziges Manöver den gutartigen Lagerungsschwindel. Ärzte setzen Medikamente wie Antihistaminika bei Lagerungsschwindel nur gegen die Begleitsymptome wie Übelkeit ein. Die Ursache beheben diese Arzneimittel nicht.

Schwankschwindel

Der phobische Schwankschwindel tritt nur in bestimmten Situationen auf. Betroffen sind meist Patienten zwischen 20 und 50 Jahren. In dieser Gruppe ist er die häufigste Schwindelart. Den Betroffenen wird schwindelig, sie stehen und gehen plötzlich unsicher. Sie nehmen den Dauerschwindel als Benommenheit wahr. Er verstärkt sich in bestimmten Situationen, etwa beim Überqueren einer Brücke oder beim Betreten großer leerer Räume. Dieser Schwindel ist ein Symptom der Angst, ähnlich wie Herzrasen, Zittern oder Schweißausbrüche. Als Auslöser spielen psychische Belastungen wie Verlustsituationen oder eine erforderliche Neuorientierung eine Rolle.

Viele Patienten sind erleichtert, wenn sie erfahren, dass keine schwerwiegende körperliche Erkrankung den Schwindel hervorruft. Durch eine Verhaltenstherapie lernen sie, mit den eigentlich harmlosen Auslösern besser umzugehen, statt sie zu vermeiden. Sport steigert das Vertrauen in die eigene Gleichgewichtswahrnehmung. Reichen Verhaltenstherapie und Sport nicht aus, verordnen manche Ärzte zusätzlich Antidepressiva wie Paroxetin oder Citalopram oder Beruhigungsmittel.

Gestörte Reizverarbeitung

Durchblutungsstörungen oder schwerwiegende Erkrankungen im Gehirn verursachen ebenfalls Schwindel, unter anderem mit Gangunsicherheit, einem pelzigen Gefühl in der Wange oder Koordinationsstörungen einer Körperseite. Doppelbilder, Lähmungen oder Sprechstörungen können beispielsweise auf einen Tumor hinweisen. Auch die Vorboten eines Schlaganfalls, die sogenannten transistorischen ischämischen Attacken (TIA), können Schwindel auslösen. In diesen Fällen sollten die Patienten schnellstmöglich einen Arzt aufsuchen.

Warnsignale

Bestimmte Begleitbeschwerden können auf eine schwerwiegende Krankheit hinweisen. Patienten, die in der Apotheke über Schwindel klagen, sollten sich bei folgenden Begleitsymptomen unverzüglich an einen Arzt wenden:

  • Starker Kopfschmerz
  • Verschwommener Blick
  • Hörverlust
  • Beeinträchtigtes Sprechvermögen
  • Sturz oder Schwierigkeiten beim Gehen
  • Benommenheit
  • Schmerzen in der Brust oder verlangsamter Herzschlag

Manchen Patienten wird auch im Rahmen einer Migräneattacke schwindelig. Die wiederkehrenden Schwindel­episoden treten dann zusammen mit Lichtempfindlichkeit oder anderen Sehstörungen und Übelkeit auf. Die Attacken dauern Minuten bis Stunden. Nur etwa zwei Drittel der Patienten klagen gleichzeitig über Kopfschmerzen.

Schwindel als Begleitsymptom der Migräne wird in der Regel genauso wie eine Migräne mit Aura behandelt. Dauern die Attacken 45 Minuten oder länger, ist die frühzeitige Einnahme eines Antiemetikums (zum Beispiel Meto­clopramid) zusammen mit einem Schmerzmittel empfehlenswert. Zur medikamentösen Prophylaxe des Migräne-Schwindels verordnen Ärzte oft Betablocker oder Valproinsäure.

Morbus Menière

Der französische Arzt Prosper Menière (1799 bis 1862) beschrieb im 19. Jahrhundert erstmals einen Hörsturz, der mit heftigen Schwindelanfällen, Ohrgeräuschen (Tinnitus) und Erbrechen einherging. Diese Krankheit heißt ihm zu Ehren Morbus Menière. Ihre Ursache ist eine Ansammlung von Flüssigkeit im Innenohr. Die Beschwerden treten in Attacken auf, die sich oft durch ein Druckgefühl in einem Ohr ankündigen.

Gegen Schwindel und Übelkeit kann der Arzt Antihistaminika wie Dimenhydrinat oder Benzodiazepine verordnen. Der verschreibungspflichtige Arzneistoff Betahistin reduziert bei langfristiger Einnahme die Häufigkeit der Attacken. Er scheint die Mikrozirkulation im Innenohr zu verbessern und so Funktionsstörungen des Gleichgewichts­apparates zu lindern. Werden die Attacken trotz Einnahme von Betahistin nicht seltener, ergänzen Ärzte die medikamentöse Therapie zusätzlich durch ein Diuretikum. In besonders schweren Fällen nutzen sie eine Nebenwirkung von Gentamycin, indem sie dem Patienten das Antibiotikum durch das Trommelfell in das Mittelohr hineinspritzen. Dort wirkt es toxisch auf das Ohrgewebe (Ototoxizität). Aufgrund unterschiedlicher Empfindlichkeiten zerstört exakt dosiertes Gentamicin nur das Gleichgewichtsorgan, während das Hörorgan im Innenohr keinen Schaden nimmt. Den dauerhaften Ausfall des Gleichgewichtsorgans kompensiert der Körper nach einiger Zeit.

Entzündeter Nerv

Auch die Entzündung des Gleichgewichtsnervs (Neuritis vestibularis) kann Schwindel hervorrufen. Sie ist allerdings kein häufiges Phänomen, sondern tritt in der Regel nur ein einziges Mal im Leben auf. Typisch für diese Form des Schwindels ist ein akut einsetzender, anhaltender Drehschwindel mit Stand- und Gangunsicherheiten sowie Übelkeit und Erbrechen. Die Symptome können wochenlang anhalten und fesseln die Betroffenen oft ans Bett. Hörstörungen treten in der Regel dabei nicht auf. Sobald das Gehirn den Funktionsausfall kompensiert, gehen die Beschwerden innerhalb von Wochen zurück.

Gegen die Entzündung verordnen Ärzte orale Glucocorticoide. In der akuten Phase helfen Antivertiginosa wie Dimenhydrinat. Sobald das Erbrechen aufhört, sollte die symptomatische Therapie beendet werden. Denn die Antivertiginosa wirken sedierend und verzögern die körpereigene Kompensation. Um ihren Gleichgewichtssinn zu trainieren, sollten Betroffene so bald wie möglich das Bett verlassen.

Schwindel als Neben­wirkung

In manchen Fällen ist der Schwindel durch Arzneimittel bedingt, beispielsweise durch Arzneistoffe aus der Gruppe der Antihypertonika, Antiepileptika oder Parkinson-Medikamente. Auch die Einnahme vieler verschiedener Arzneimittel, die sogenannte Polymedikation, führt oft zu Schwindel. Der Verdacht auf eine Nebenwirkung liegt nahe, wenn der Schwindel direkt nach einer Neuverordnung oder einer Dosiserhöhung beginnt. Ähnlich wie Menschen mit niedrigem Blutdruck wird es beispielsweise Patienten nach Einnahme eines neuen Blutdrucksenkers nicht selten beim Aufstehen schwindelig. Dann wird das Gehirn kurzfristig nicht ausreichend mit Blut versorgt. Diese »orthostatische Dysregulation« vergeht innerhalb von Sekunden von selbst. /

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