Dauerhaft anfallsfrei? |
14.08.2018 16:16 Uhr |
Von Carina Steyer / Die medikamentöse Behandlung ist die Basistherapie bei Epilepsie. Schlägt sie aber nicht an oder wirkt nicht ausreichend, bieten chirurgische Verfahren eine Alternative. Vor allem Kinder können von einer frühen Operation profitieren.
Damit eine Operation für einen Patienten infrage kommt, muss er als pharmakoresistent eingestuft werden. Nach der Definition der Internationalen Liga gegen Epilepsie (ILAE) von 2010 ist das der Fall, wenn er nach einem Behandlungsversuch mit mindestens zwei Medikamenten in ausreichender Dosierung nicht anfallsfrei wird. Das trifft auf etwa ein Drittel der Epileptiker zu. Besonders häufig tritt eine Pharmakoresistenz bei fokalen Epilepsien auf, bei denen die epileptische Aktivität an einer oder mehreren identifizierbaren Stellen im Gehirn beginnt und sich im Verlauf des Anfalls über weitere Hirnregionen ausbreitet. Obwohl sich ein chirurgischer Eingriff bei diesen Anfällen gut eignet, werden viele Patienten erst spät operiert.
Ist der Patient für eine Operation geeignet? Hinweise liefert das Elektroenzephalogramm.
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In der European Epilepsy Brain Bank (EEBB) werden seit 2006 Informationen von Patienten aus 36 Epilepsiezentren in zwölf Ländern gesammelt. Demnach liegen zwischen dem ersten Anfall und einer Operation im Durchschnitt 16 Jahre. Experten erklären die lange Zeitspanne damit, dass viele Ärzte und Patienten einen operativen Eingriff am Gehirn scheuen und eine medikamentöse Behandlung vorziehen. Die Wahrscheinlichkeit, nach dem ersten erfolglosen Medikament mit einem zweiten Wirkstoff Anfallsfreiheit zu erreichen, liegt nur bei 12 Prozent. Nach Therapieversuchen mit zwei Medikamenten liegt die Wahrscheinlichkeit, anfallsfrei zu werden, unter 5 Prozent. Mit einer Operation kann bei etwa 60 Prozent dieser Patienten Anfallsfreiheit erreicht werden.
Aufgrund dieser Daten fordern die Deutsche Gesellschaft für Neurologie, die Deutsche Gesellschaft für Epileptologie und die Deutsche Gesellschaft für Neuropathologie und Neuroanatomie ein Umdenken bei der Behandlung von Epilepsien. Sie empfehlen, Patienten nach zwei Jahren inakzeptabler Anfallskontrolle in ein spezialisiertes Zentrum für eine epilepsiechirurgische Diagnostik zu überweisen.
Nutzen und Risiko
Epilepsiechirurgische Verfahren gelten heute als sicher, benötigen aber eine genaue Nutzen-Risiko-Abwägung. Nicht jeder pharmakoresistente Epileptiker eignet sich für einen operativen Eingriff. So sind Patienten mit einer generalisierten Epilepsie, bei der die epileptische Aktivität von Anfang an über die gesamte Hirnoberfläche läuft, grundsätzlich von einer Operation ausgeschlossen. Auch Kinder und Jugendliche mit der Möglichkeit einer spontanen Ausheilung der Epilepsie und Epileptiker, die sich durch ihre Anfälle nicht oder nur gering beeinträchtigt fühlen, werden in der Regel nicht operiert. Bei allen anderen Patienten wird im Rahmen der epilepsiechirurgischen Diagnostik abgeschätzt, wie wahrscheinlich eine spätere Anfallsfreiheit und Folgeschäden sind.
Viele Voruntersuchungen
Die Betroffenen müssen sich dafür allgemeinen, neurologischen, psychiatrischen und neuropsychologischen Untersuchungen unterziehen, außerdem wird eine Magnetresonanztomografie durchgeführt. In einer Sozialanamnese werden außerdem die Veränderungen durch eine Operation und die Unterstützung nach dem Eingriff besprochen. Um das Erscheinungsbild der epileptischen Anfälle und die Vorgänge im Gehirn zu erfassen, wird über mehrere Tage hinweg ein Video-Elektroenzephalogramm-(EEG)-Intensiv-Monitoring durchgeführt. Dabei werden epileptische Anfälle erfasst, der Patient mit einer Kamera aufgezeichnet und von medizinischem Personal permanent überwacht. So kann geprüft werden, wie der Betroffene einen Anfall erlebt und welche Funktionen (etwa Sprache, Bewegung) beeinträchtigt werden.
Neurologen können anhand der Daten Rückschlüsse auf den Ursprungsort und die Ausbreitung der Anfälle ziehen. In einigen Fällen reichen die Ergebnisse dieser Untersuchungen nicht aus, um ein aussagekräftiges Ergebnis zu erhalten. Manchmal kann auch eine invasive Diagnostik notwendig werden, bei der Elektroden in den Schädel eingebracht werden, die ein besseres Video-EEG-Intensiv-Monitoring ermöglichen.
Umfangreicher Check: Vor der OP wird unter anderem eine Magnetresonanztomografie durchgeführt.
Foto: Your Photo Today
30 bis 40 Prozent der untersuchten Patienten erhalten schließlich eine Empfehlung zur Operation. Welche Methode die beste ist, hängt auch von den Ergebnissen der epilepsiechirurgischen Diagnostik ab. Beim sogenannten Resektionsverfahren entfernt der Chirurg das epileptogene Gewebe vollständig aus dem Gehirn. Die Voraussetzungen dafür sind, dass nur ein anfallsauslösender Bereich vorhanden ist, der sich genau eingrenzen lässt und dass dieser nicht in einem funktionell bedeutenden Hirnareal, zum Beispiel für die Sprache, liegt.
Ist eine Resektion nicht möglich, kommen sogenannte Diskonnektionsverfahren zum Einsatz. Dabei werden Nervenbahnen unterbrochen, sodass eine Ausbreitung der epileptischen Aktivität im Gehirn nicht mehr möglich ist. Liegt der anfallsauslösende Bereich zum Beispiel in funktionell wichtigen Regionen, werden Leitungsbahnen durchtrennt, die direkt unter der Hirnhaut liegen. Auch eine Balkendurchtrennung (Callosotomie) ist möglich. Hier wird die Verbindung zwischen den beiden Großhirnhemisphären ganz oder teilweise durchtrennt, ein Informationsaustausch zwischen den beiden Hirnhälften ist anschließend nicht mehr oder nur noch eingeschränkt möglich. Indiziert ist die Balkendurchtrennung vor allem bei Patienten mit häufigen Sturzanfällen, die schwere Verletzungen nach sich ziehen. Durch die Operation lässt sich die Anzahl der Stürze reduzieren, Anfallsfreiheit wird aber nicht erreicht. Darüber hinaus hat der Eingriff zahlreiche kognitive Nebenwirkungen, weshalb er umstritten ist.
Neben den Resektions- und Diskonnektionsverfahren gibt es weitere epilepsiechirurgische Maßnahmen wie die Vagusstimulation oder Bestrahlungstherapien. Sie werden eingesetzt, wenn andere Methoden nicht möglich sind oder keinen Erfolg gebracht haben. Wie erfolgreich eine Operation verlaufen ist, zeigt sich im zeitlichen Verlauf nach dem Eingriff. Deshalb gilt für alle Patienten: Die Medikamente dürfen erst nach mindestens einem Jahr Anfallsfreiheit abgesetzt werden.
Gute Erfolgsaussichten
Wenn es gelingt, den Ursprung der Anfälle auf eine spezifische Hirnregion zu begrenzen, kann die epilepsiechirurgische Behandlung in vielen Fällen eine gute, sichere und erfolgreiche Alternative zur medikamentösen Therapie sein. Laut den Daten der EEBB waren im Durchschnitt 65 Prozent der erfassten Kinder und 58 Prozent der Erwachsenen nach der Operation anfallsfrei. Die übrigen Patienten erleben eine Verbesserung der Ausgangssituation, oft gelingt auch nach der OP eine zufriedenstellende medikamentöse Einstellung.
Bei Kindern und Jugendlichen haben sich epilepsiechirurgische Maßnahmen in den letzten 20 Jahren zu einer wichtigen und fest etablierten Behandlungsoption entwickelt. Für sie verbessert sich durch die Operation nicht nur die Anfallskontrolle, sie profitieren auch von der Chance auf eine bessere neurokognitive und psychosoziale Entwicklung. Experten raten heute häufig zu einem frühzeitigen Eingriff, denn je kürzer eine Epilepsie besteht, umso besser sind die Operationsergebnisse. Zusätzlich ist von langjährigen Epileptikern bekannt, dass die erlebten Einschränkungen der Lebensqualität mit ihren negativen Auswirkungen auf die psychische, mentale und soziale Entwicklung oft auch nach erfolgreicher Operation bestehen bleiben. Epilepsiechirurgische Eingriffe sind bereits im Kleinkindalter möglich. Ein Vorteil ist die hohe Kompensationsfähigkeit ihres Gehirns: Kleinkinder können mögliche eingriffsbedingte neurologische Ausfälle oft gut ausgleichen. /