Abhängigkeit im Alter |
11.11.2014 09:37 Uhr |
Von Maria Pues / Bei einem konkreten Anlass und für einen kurzen Zeitraum verordnet sind Benzodiazepine und Z-Substanzen sichere Schlaf- oder Beruhigungsmittel. Aber die Wirkstoffe haben auch ein Abhängigkeitspotenzial: Schätzungsweise 1,2 Millionen Menschen in Deutschland gelten als Benzodiazepin-abhängig, vor allem ältere. Wie das Apothekenteam beim Verdacht auf Missbrauch oder Abhängigkeit handeln kann, zeigt ein Modellprojekt.
Oft war eine akute schwere Belastungssituation der ursprüngliche Grund für eine Verordnung von Benzodiazepinen oder ihren Analoga, den Z-Substanzen. Diese besitzen sehr ähnliche Wirkungen und Anwendungsgebiete: vor allem funktionelle Schlafstörungen, Angst- und Spannungszustände sowie Krampfanfälle bei Epilepsie. Die Arzneistoffe verstärken die Wirkung eines körpereigenen, hemmenden Botenstoffes, der Gamma-Amino-Buttersäure, kurz GABA. Das macht ihre Anwendung sicher, dennoch birgt sie Gefahren.
Foto: Shutterstock/Matt Antonino
Wer Benzodiazepine einmal im Zustand von Angst und Unruhe angewendet hat, weiß: Man spürt, wie die Wirkung einsetzt. Ganz sachte versinkt man in einem gefühlten angenehm weichen Watteberg, Angst und Sorgen verflüchtigen sich, ein Wohlgefühl breitet sich aus, und endlich schlummert man ein. Doch die Sache hat einen Haken: Wenn man sich regelmäßig auf diese Weise bettet, verdichtet sich die Watte und wird hart. Daher sehen die Behandlungsleitlinien einige Grundsätze beim Einsatz von Benzodiazepinen und Z-Substanzen vor. Ärzte- und Apothekerkammern erinnern die Heilberufler regelmäßig an die »vier Ks«.
Der Dauergebrauch von Schlafmitteln aus der Gruppe der Benzodiazepine und Z-Substanzen kann jedoch auch Schlafstörungen auslösen. Betroffene schlafen nicht trotz, sondern wegen ihres Schlafmittels schlecht – für viele mutet das auf den ersten Blick paradox an. Denn in diesem Fall sind nicht mehr und/oder stärkere Arzneimittel erforderlich, sondern im Gegenteil: Geringere Dosierungen oder besser noch der Verzicht helfen den Patienten, wieder besser zu schlafen.
Die verschiedenen Benzodiazepine und Z-Substanzen unterscheiden sich untereinander, und zwar vor allem durch ihre Halbwertszeit. Dies ist die Zeit, die der Körper benötigt, um die Wirkstoffmenge zu halbieren. Je länger die Halbwertszeit, umso länger ist im Allgemeinen auch die Wirkung. Diese wird aber auch von weiteren Faktoren beeinflusst. So werden manche Benzodiazepine zu selbst wieder wirksamen Verbindungen abgebaut. Auch das Alter des Patienten und seine Organfunktionen spielen eine Rolle. Diese Faktoren führen dazu, die Wirkdauer eines Arzneistoffs zu verlängern.
Foto: Colourbox
Der Körper benötigt zum Beispiel 20 bis 40 Stunden, um die Diazepam (Valium®)-Dosis zu halbieren. Bei älteren Menschen kann dies doppelt bis dreimal so lange dauern. Darüber hinaus entstehen Abbauprodukte, die selbst eine lange Wirkdauer besitzen. Das Problem der lang anhaltenden Wirkung verschärft sich, wenn der Patient das Arzneimittel regelmäßig einnimmt. Auf die noch nicht abgeklungene Wirkung der früheren Einnahme kommt dann die der erneuten. 10 bis 20 Stunden dauert es, bis Bromazepam (Lexotanil®) zur Hälfte abgebaut ist. Dies kann sich im Alter fast verdoppeln. Abbauprodukte mit eigener Wirkung bilden sich dabei aber nicht. Schneller – in 4 bis 15 Stunden – geht es bei Oxazepam (Adumbran®). Dies ändert sich auch im Alter nicht. Zudem bildet Oxazepam keine wirksamen Abbauprodukte. Diese Unterschiede spielen nicht nur bei ihrem Einsatz eine Rolle, sondern auch, wenn es darum geht, eine monate- oder jahrelange Anwendung langsam zu beenden.
Die Dosis bleibt gleich
Untersuchungen zufolge wird der überwiegende Anteil der Arzneimittel leitliniengerecht aus einem konkreten Anlass und für einen kurzen Zeitraum verordnet und die Anwendung bald beendet. Dennoch gibt es infolge der breiten Anwendung viele Patienten, die die Substanzen über einen längeren oder sehr langen Zeitraum einnehmen und die als abhängig betrachtet werden müssen. Die Häufigkeit einer Daueranwendung steigt mit dem Alter und kommt bei Frauen häufiger vor als bei Männern. In den meisten Fällen handelt es sich um eine Low-Dose-Dependency, eine Niedrigdosis-Abhängigkeit. Sie unterscheidet sich von einer High-Dose-Dependency, einer Hochdosis-Abhängigkeit, dadurch, dass die Betroffenen die anfänglich einmal verordnete Dosierung nicht oder allenfalls leicht steigern. Auch wenn Betroffene sich anders verhalten als Familie und Freunde es gewöhnt sind, führen diese es meist nicht auf das Arzneimittel zurück, sondern beispielsweise auf das Alter oder eine anhaltende Belastungssituation. Eine Niedrigdosis-Abhängigkeit wird daher häufig nicht als solche wahrgenommen. Entsprechend gering ist das Angebot an Maßnahmen zur Entwöhnung. Einige mögliche Anhaltspunkte können Anwender mit einem Selbsttest herausfinden (siehe Kasten auf der nächsten Seite).
Ältere Menschen bilden nicht nur eine besonders große Gruppe unter den Daueranwendern, sie reagieren meist auch besonders empfindlich auf diese Wirkstoffgruppe. So spricht ihr Nervensystem stärker auf diese Substanzen an. Darüber hinaus baut ihr Stoffwechsel die Wirkstoffe langsamer ab, sodass die Arzneimittel bei ihnen länger wirken. Das erhöht das Risiko für eine Anreicherung des Arzneistoffs im Körper und damit für Nebenwirkungen. Die anhaltende muskelentspannende Wirkung erhöht häufig die Sturzneigung. So geht eine Vielzahl von Hüft- und Oberschenkelhalsbrüchen auf das Konto von Schlafmitteln. Gerade ältere Patienten erholen sich von solchen Verletzungen oft nur sehr schwer und sehr langsam, und die oft langwierige Behandlung ist mit erheblichen Kosten verbunden.
»Kurzfristig angewendet sind Benzodiazepine gut wirksame und sichere Arzneimittel«, sagt Apotheker Dr. Ernst Pallenbach aus Villingen-Schwenningen. In der Daueranwendung lasse die Wirkung aber häufig nach, ohne dass das Risiko für Nebenwirkungen abnehme. Was Patienten häufig für anhaltende Beschwerden ihrer Grunderkrankung oder eine anhaltende Belastungssituation hielten, seien häufig Anzeichen einer nachlassenden Benzodiazepinwirkung, kurzum Entzugssymptome, erläutert Pallenbach. »Diese lassen sich durch die Einnahme des Arzneimittels zwar vorübergehend lindern, treten aber bei abnehmenden Wirkspiegeln erneut auf.« Ein Kreislauf, den Betroffene allein nicht unterbrechen können – und auch nicht sollten, da ein plötzliches Absetzen nach einer langen Anwendungsdauer zu erheblichen Entzugssymptomen führen kann.
Beantworten Anwender eine oder mehrere Fragen mit »Ja«, kann dies auf eine Abhängigkeit hinweisen:
Quelle: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen
In einem von der ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände getragenen und vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten Modellprojekt hat Pallenbach gezeigt, wie bestimmte Patientengruppen – Patienten mit einer Niedrigdosis-Abhängigkeit ohne psychiatrische Primärerkrankungen oder Epilepsie in der Vorgeschichte – eine Daueranwendung mit gemeinsamer Unterstützung von Hausarzt und Apotheke ambulant beenden können. Die dabei entwickelte Vorgehensweise lässt sich prinzipiell von jeder Apotheke umsetzen.
Kontakt mit dem Arzt
Besteht der Verdacht, dass ein Patient das Arzneimittel missbräuchlich anwendet beziehungsweise eine Abhängigkeit besteht, sollte die Apotheke Kontakt mit infrage kommenden Hausärzten aufnehmen und mit ihnen das Vorhaben besprechen, erläutert der Apotheker. Er rät, sich nicht gleich entmutigen zu lassen, wenn dieses – oft aufgrund des auch dort hohen Arbeitspensums – nicht im ersten Anlauf reibungslos zustande kommt. Oft lohnten Ausdauer und Beharrlichkeit. Die Praxis habe gezeigt, dass auch die tägliche Kommunikation von der Zusammenarbeit in diesem Bereich profitiert habe, berichtete er.
Nicht mehr ohne: Ein- und Durchschlafen ohne Schlafmittel ist für Abhängige kaum vorstellbar.
Foto: Shutterstock/Yuriy Rudyy
Im nächsten Schritt kann das Apothekenteam gemeinsam beraten, wie es Patienten auf ihre Abhängigkeit ansprechen kann, ohne die Begriffe Abhängigkeit oder Sucht zu benutzen. Selbst wenn die Patienten sich insgeheim eingestehen würden, sich eine Nacht ohne ihr Schlafmittel gar nicht mehr vorstellen zu können, würden sie sich selbst nie als abhängig bezeichnen und möchten folglich auch von anderen nicht so klassifiziert werden. In ihrer Vorstellung halten sich Abhängige bevorzugt an Bahnhöfen auf, begehen Straftaten, um an Geld für ihren »Stoff« zu kommen, und vernachlässigen alles, was nichts mit diesem zu tun hat. »Fragen Sie Ihren Patienten daher, ob das verordnete Schlafmittel immer noch so gut wirkt wie zu Beginn«, rät Pallenbach.
Schläft der Patient nach der Anwendung nicht mehr so gut wie in der Anfangszeit, berichtet er über Vergesslichkeit, abnehmende Interessen oder Gangunsicherheit, können PTA oder Apotheker ihm behutsam die möglichen Hintergründe erläutern und so den Wunsch nach einer Veränderung wecken – einer Dosisreduktion oder einem vollständigen Ausschleichen.
Verwendet der Patient ein Schlafmittel mit einer relativ langen Halbwertszeit, das die Gefahr einer langen Nachwirkung am nächsten Tag birgt, sollten PTA oder Apotheker die Vorteile eines kürzer wirksamen Arzneistoffs erläutern – ein Vorgehen, das der Apotheker zuvor mit dem Arzt besprochen hat. Als gut geeignet beim Ausdosieren hat sich Oxazepam erwiesen. Es besitzt eine mittlere Halbwertszeit, die sich auch bei älteren Patienten nicht verlängert, es bildet keine wirksamen Abbauprodukte, und seine Dosis lässt sich gut langsam und in kleinen Schritten reduzieren. Das Ausschleichen nimmt meist mehrere Wochen oder Monate in Anspruch. Welche Dosis Oxazepam dem jeweils angewendeten Arzneistoff entspricht, lässt sich einer Äquivalenzdosen-Tabelle entnehmen. So kann man die Abdosierung patientenindividuell gestalten.
Lebensqualität verbessert
Zusätzlich können Gesprächstermine von Apotheker und Patient, aber auch von Arzt und Patient, die Motivation unterstützen. Ziele, Wünsche und Erwartungen können dann besprochen werden. So fällt es beispielsweise vielen älteren Menschen schwer zu akzeptieren, dass der Schlaf mit den Jahren kürzer und weniger tief ausfällt, ohne dass ihnen dies schadet. Ihn regelmäßig mit Arzneimitteln herbeizwingen zu wollen, gelingt meist nicht. Dagegen berichteten Patienten, die im Modellprojekt erfolgreich ihre Schlafmittel reduzieren oder ganz ausschleichen konnten, nicht nur, dass sich ihre Schlafqualität verbessert habe. Auch am Tage fühlten sie sich aktiver, erweckten frühere Interessen zu neuem Leben oder entwickelten neue und nahmen insgesamt wieder mehr am Leben teil. /
BAK-Leitfaden »Medikamente: Abhängigkeit und Missbrauch«, auf www.abda.de