Bis zuletzt in guten Händen |
27.08.2018 11:57 Uhr |
Von Michael van den Heuvel / Die Zahl an Menschen mit Demenz steigt stetig. Seit einer Reform der früheren Pflegestufen erhalten zwar mehr Patienten Leistungen aus der Pflegeversicherung. Bei der stationären Betreuung gibt es aber nach wie vor Defizite, etwa durch die zu freizügige Gabe von Neuroleptika.
In Deutschland leben laut Angaben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft etwa 1,7 Millionen Menschen mit Demenz. Pro Jahr kommen 300 000 Neuerkrankungen mit hinzu. Sollten Durchbrüche bei der Therapie oder Prävention ausbleiben, rechnen Experten bis 2050 mit rund drei Millionen Erkrankten. Schon jetzt gibt es zu wenige Pflegekräfte, um alle Menschen zu betreuen.
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Wie lange Menschen mit einer Demenz leben, lässt sich schwer verallgemeinern. Studien nennen als mittlere Krankheitsdauer drei bis sechs Jahre. Hier spielt das Alter von Patienten eine große Rolle. Wer unterhalb von 65 Jahren erkrankt, hat noch acht bis zehn Jahre. Bei der Erstdiagnose zwischen 65 und 75 sind es weniger als sieben Jahre. Die verbleibende Lebenszeit verringert sich auf weniger als fünf Jahre, wenn Menschen zwischen dem 75. und 85. Lebensjahr erkranken. Noch betagteren Betroffenen bleiben statistisch drei Jahre. Auch die Art der Erkrankung ist von Relevanz. Fachgesellschaften berichten, dass Alzheimer-Demenzen etwas länger als vaskuläre Demenzen dauern. Dass zwei Drittel aller Demenzen auf Frauen und nur ein Drittel auf Männer entfallen, erklären Experten mit der unterschiedlichen Lebenserwartung: Frauen werden älter, und Demenzen treten meist in späten Jahren auf. Betroffene werden von Angehörigen zu Hause, ambulant oder stationär gepflegt.
Welche Unterstützung Patienten, aber auch deren Familien erhalten, hat sich mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz Anfang 2017 grundlegend geändert. Aus den früheren drei Pflegestufen 0 bis 3 wurden die Pflegegrade 1 bis 5. Seither haben mehr Menschen Anspruch auf Leistungen, speziell bei Demenzerkrankungen und psychiatrischen Leiden.
Um zu beurteilen, ob eine Pflegebedürftigkeit vorliegt oder eine Höherstufung erforderlich ist, arbeitet der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit Bewertungsmodulen zu verschiedenen Bereichen des täglichen Lebens. Diese werden unterschiedlich gewichtet.
Aus der Gesamtpunktzahl ermitteln MDK-Experten den Pflegegrad 1 (12,5 bis 25 Punkte), 2 (27 bis
Entlastung für Angehörige
Übernehmen Angehörige oder Ehrenamtliche die Betreuung, erhalten sie 316 Euro (Pflegegrad 2) bis 901 Euro (Pflegegrad 5) pro Monat. Dieses Pflegegeld ist auch mit Sachleistungen von 689 Euro (Pflegegrad 2) bis zu 1 995 Euro (Pflegegrad 5) kombinierbar, um beispielsweise einen ambulanten Pflegedienst zu beauftragen. Für Hilfsmittel kommen monatlich 40 Euro (Pflegegrad 2 bis 5) mit hinzu.
Macht die pflegende Person Urlaub oder erkrankt selbst, übernimmt die Pflegeversicherung Kosten für maximal sechs Wochen pro Jahr. In den Pflegegraden 2 bis 5 stehen dafür maximal 1 612 Euro zur Verfügung.
Als Alternative greifen Verwandte immer häufiger auf Agenturen zurück, die Pflegekräfte aus Osteuropa vermitteln. Mehrere Personen wechseln sich ab, um – falls erforderlich – eine 24-stündige Betreuung dementer Menschen zu gewährleisten. Die Angestellten haben unterschiedliche medizinische Kenntnisse und sprechen besser oder schlechter deutsch. Gerade Berufstätige sehen darin einen möglichen Weg, ihren Eltern oder Schwiegereltern das Heim zu ersparen.
Sediert, sauber, satt – das reicht nicht aus
Neben ambulanten Pflegesachleistungen oder dem Pflegegeld können Patienten auch Leistungen für die teilstationäre Tages- und Nachtpflege in Anspruch nehmen, und zwar monatlich 689 Euro (Pflegegrad 2) bis 1 995 Euro (Pflegegrad 5). In der vollstationären Pflege sind es 770 bis 2 005 Euro monatlich. Personen im Pflegegrad 1 können in beiden Fällen bis zu 125 Euro als Entlastungsbetrag oder Zuschuss geltend machen.
Mehrere schwarze Schafe haben der Pflegebranche jedoch schweren Schaden zugefügt. Sie haben unter anderem Menschen mit Demenz leichtfertig ans Bett fixiert beziehungsweise medikamentös sediert. Maßnahmen zum Freiheitsentzug sind ohne Genehmigung des Betreuungsgerichts nur kurzfristig erlaubt, falls der Patient sich selbst oder andere gefährdet. Fachärzte für Psychiatrie oder Neurologie und Sozialarbeiter werden ebenfalls in den Entscheidungsprozess eingebunden.
Aber auch die Arzneimitteltherapie ist umstritten. »Soweit es die klinische Situation erlaubt, sollten alle verfügbaren und einsetzbaren psychosozialen Interventionen ausgeschöpft werden, bevor eine pharmakologische Intervention in Erwägung gezogen wird«, heißt es in der S3-Leitlinie zu Demenzen. »Für Patienten mit Parkinson-Demenz, Lewy-Körper-Demenz und verwandten Erkrankungen sind klassische und viele atypische Neuroleptika kontraindiziert, da sie Parkinson-Symptome verstärken und Somnolenzattacken auslösen können.«
Die Realität sieht anders aus: Laut Pflegereport 2017 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) erhalten 43 Prozent aller Demenzkranken dauerhaft Neuroleptika. »Das verstößt gegen die Leitlinien«, sagt Studienleiterin Petra Thürmann von der Universität Witten/Herdecke in einem Pressegespräch. Gerade bei Senioren sind Nebenwirkungen wie Stürze, Schlaganfälle oder Thrombosen äußerst gefährlich. Vor allem der Zeitdruck verhindert alternative Konzepte, etwa Bewegungs- und Beschäftigungstherapien.
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Wer für Angehörige gute stationäre Einrichtungen sucht, hat es derzeit schwer. Es gibt zwar seit 2009 den »Pflege-TÜV« mit Noten für mehrere Teilbereiche:
Die Ergebnisse sind beim Pflegeheimnavigator der AOK, beim Pflegefinder der BKK, beim Pflegekompass von Knappschaft, LSV beziehungsweise IKK sowie beim Pflegelotsen des Verbands der Ersatzkassen (vdek) zu finden. Pflegenoten gerieten jedoch in die Kritik, weil sie Mankos verschleiern, indem Durchschnittswerte gebildet werden: Eine seniorengerechte Speisekarte kann medizinische Defizite kompensieren. Außerdem fehlen wichtige Fakten wie die Zahl an Fachkräften pro Heimbewohner.
Was plant die Politik?
Deshalb hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) die Pflege jetzt zur Chefsache gemacht. Er will mehr Fachkräfte einstellen, was ohne zusätzliche Gelder kaum möglich sein wird. »Wir werden in den nächsten Jahren die Beiträge nochmals erhöhen müssen«, so Spahn.
Derzeit sind 2,55 Prozent des Bruttoeinkommens für Eltern beziehungsweise 2,80 Prozent für Kinderlose zu berappen. Spahn rechnet ab 2019 mit zusätzlichen 0,3 Prozent. Bei der Kalkulation spielen Demenzkranke als stark anwachsende Gruppe eine große Rolle. Den Pflege-TÜV hält der Minister für »unbefriedigend«. Noch im Sommer will er Reformpläne veröffentlichen. /