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Kognitiv fit

Krafttraining für das Gehirn

27.08.2018  11:58 Uhr

Von Michael van den Heuvel / Ob Sudokus oder Kreuzworträtsel unser Gehirn vor Demenzen schützen, ist umstritten. Mit gezieltem Gehirnjogging tun wir unseren kleinen grauen Zellen eher einen Gefallen. Doch nicht jede Methode hält, was die Entwickler versprechen.

Etwas Vergesslichkeit im Alter ist normal, doch alles hat seine Grenzen. Als Anna F. beim Neurologen erfuhr, ihre Gedächtnisschwäche sei Vorbote einer Alzheimer-Demenz, brach für sie eine Welt zusammen. Die Erkrankung ist derzeit nicht heilbar, Arzneistoffe wirken nur symptomatisch oder verlangsamen höchstens das Fortschreiten. Aktuelle Zahlen zeigen, dass hier immense Probleme auf unser Gesundheitssystem zukommen.

Zum Hintergrund: Unsere Lebenserwartung steigt Jahr für Jahr. Laut aktuellen Berechnungen des Statistischen Bundesamts liegen vor neugeborenen Mädchen derzeit 83 Jahre und zwei Monate. Bei Jungen sind es durchschnittlich 78 Jahre und vier Monate. Anfang des 19. Jahrhunderts wurden Deutschlands Bürger im Schnitt nur 45 Jahre alt. Medizin und Pharmazie haben enorme Fortschritte gemacht. Damit gewinnen Erkrankungen später Jahre an Bedeutung.

 

Studien haben gezeigt, dass viele Menschen ab 60 Jahren mindestens ein chronisches Leiden entwickeln. Und ab 80 ist nur noch jeder zehnte Bürger einigermaßen gesund. Dabei handelt es sich nicht nur um Diabetes oder Hypertonie als einigermaßen kontrollierbare Funktionsstörungen. Momentan sind rund 50 Millionen Menschen von unterschiedlichen Demenzen betroffen. Bis 2050 rechnen Experten mit mehr als 130 Millionen, falls es keine Durchbrüche aus der Forschung gibt. Umso wichtiger werden nicht-medizinische Methoden.

Früh übt sich ...

Bei erwachsenen Personen mit genetisch bedingtem Alzheimer-Risiko verzögert regelmäßige geistige Aktivität den Krankheitsausbruch. Das fanden Wissenschaftler um Prashanthi Vemuri von der Mayo Clinic im amerikanischen Rochester heraus. Sie untersuchten 393 Studienteilnehmer über 70 Jahren ohne Demenz, aber mit leichten kognitiven Einschränkungen. Über Fragebögen erfassten sie den Lebensstil inklusive diverser Freizeitaktivitäten. Personen mit einer genetischen Variante des Apolipoproteins E, einem Risikomarker, hatten signifikant weniger Plaques, falls sie sich in ihrer Freizeit regelmäßig mental betätigten. Hier ging es nicht um spezielle Gehirnjoggings. Schon Fachliteratur entfaltete ihre Wirkung. Die spezielle Personengruppe profitierte von Sport, von sozialen Kontakten oder von einem Body Mass Index im Normalbereich deutlich weniger als erwartet.

 

Doch wie sieht es bei Menschen ohne erbliches Risiko aus? Legt man harte Kriterien der evidenzbasierten Medizin an, spielen Analysen der Cochrane Collaboration eine große Rolle. Das Netzwerk unabhängiger Wissenschaftlern erstellt anhand bereits veröffentlichter Studien systematische Übersichtsarbeiten.

 

Experten überprüften elf Studien zum kognitiven Training und eine Studie zur kognitiven Rehabilitation. Eingeschlossen wurden Patienten mit milden­ oder mittelschweren Demenzen unterschiedlicher Art. »Wir fanden keinen Beweis für die Wirksamkeit von kognitivem Training zur Verbesserung der kognitiven Funktionen, der Stimmung­ oder der Aktivitäten im täglichen Leben«, fassen die Autoren zusammen. Allerdings hätten etliche der ausgewerteten Arbeiten methodische Mängel gehabt, lautet ihre Kritik. Sie weisen darauf hin, es gebe Hin­weise auf potenzielle Vorteile des Gedächtnis­trainings.

Unterschiedliche Methoden – fehlerhafte Ergebnisse

»Der Fehler, den manche Leute machen, ist, zu denken, dass das gesamte Gehirntraining gleich ist«, erwidert Jerri Edwards von der University of South Florida in Tampa bei einem Neurologenkongress. Dies entspreche Versuchen, »die Wirksamkeit von Antibiotika zu bestimmen, indem man alle nur erdenklichen Pillen in Analysen einbezieht: Man wird feststellen, dass einige wirken und andere nicht.« Ähnlich werde bei Programmen für Demenzpatienten vorgegangen.

 

Der Forscher hat sich deshalb mit einer speziellen Methode befasst. Beim »Useful Field of View« (UFOV) trainieren Probanden ihr Sichtfeld anhand von Computerprogrammen. Sie müssen ein Objekt im Zentrum des Blickfeldes anvisieren und gleichzeitig andere Gegenstände in Randbereichen identifizieren. Je mehr Zeit Versuchsteilnehmer mit dem UFOV verbrachten, desto schneller konnten sie selbst bei schwierigeren Aufgaben die Herausforderung bewältigen. Um den Mehrwert zu ermitteln, analysierte Edwards rund 50 Studien. Und tatsächlich waren Personen mit regel­mäßigem Gehirnjogging auch im Alter eher in der Lage, ihren Alltag zu meistern. Verglichen mit Kontrollen ohne Training gaben 40 Prozent weniger ihren Führerschein aufgrund ihres Alters ab. Das kann viele Gründe haben.

 

Um mehr über Demenzen zu erfahren, initiierte Edwards selbst eine Studie mit 2785 neurologisch gesunden Probanden zwischen 65 und 94 Jahren. Ein Teil von ihnen brachte die kleinen grauen Zellen mit Gehirnjogging in Schwung, andere Personen verzichteten darauf. Nach zehn Jahren verringerte sich in der UFOV-Gruppe das Demenzrisiko um 48 Prozent, gemessen an der Kontrollgruppe. »Manche Trainings funktionieren und andere wohl nicht, schlussfolgert Edwards. Er fordert genauere Untersuchungen zu jedem Testverfahren auf dem Markt.

Senioren spielen Super Mario

Zugegeben – das UFOV-Training klingt nicht gerade nach viel Spaß. »Wenn Sie zwischen 55 und 75 Jahre alt sind, sollten Sie versuchen, 3-D-Plattformspiele wie Super Mario 64 zu spielen, um leichte kognitive Beeinträchtigungen zu vermeiden und vielleicht sogar Alzheimer vorzubeugen«, so Gregory West von der Universität Montréal. Er zeigte anhand junger Erwachsener, dass Daddeln zu mehr grauer Substanz im Hippocampus führt. Diese Region gilt als wichtiger Bereich für unsere kognitive Gesundheit.

Anschließend rekrutierte West 33 Personen zwischen 55 bis 75 Jahren, die per Zufall in drei separate Gruppen eingeteilt wurden. Sie spielten 30 Minuten »Super Mario 64« pro Tag, nahmen zum ersten Mal in ihrem Leben Klavierunterricht oder änderten nichts an ihrer Freizeitgestaltung. Nach sechs Monaten bewerteten Forscher mögliche Änderungen anhand kognitiver Tests sowie bildgebender Verfahren. Laut MRT kam es nur bei Teilnehmern der Videospiel-Gruppe zu mehr Volumen der grauen Substanz im Hippocampus und im Cerebellum. Ihr Kurzzeitgedächtnis verbesserte sich ebenfalls. Das neue Musikinstrument führte zu mehr grauer Substanz im Kortex und im Kleinhirn. West erklärt, ohne Stimuli verkümmert unsere graue Substanz mit zunehmendem Alter. »Die gute Nachricht ist, dass wir diese Effekte umkehren und das Volumen­ erhöhen können, indem wir etwas Neues lernen.«

Viele Stimuli, weniger Plaques

Dafür ist es nie zu spät. Warum nicht-medikamentöse Therapien bei der Alzheimer-Demenz ihre Berechtigung haben, untersuchten Münsteraner Forscher im Tierexperiment. Sie arbeiteten mit speziellen Mäusen, die im Alter Beta-Amyloid-Ablagerungen entwickeln. Diese »Plaques« führen zum Untergang von Nervenzellen.

 

Manche Tiere lebten in Käfigen mit »angereicherter« Umgebung: Es gab viel zu spielen oder zu entdecken. Ihr Gedächtnis erhielt ständig neue Impulse. Andere Nager bekamen nur die Standard-Unterbringung im Käfig. Der Stimulus führte zu weniger Plaques. Die Läsionen waren im Mittel auch kleiner als bei Kontrolltieren. Forscher vermuten, dass in der »angereicherten« Umgebung und im langweiligen Käfig andere Gene aktiviert werden. So gelang es ihnen bei Alzheimer-Mäusen, die Erkrankung ohne Pharmaka etwas hinauszuzögern.

 

Bleibt als Fazit: Aufgrund der Studienlage ist es schwer möglich, den generellen Mehrwert von Gehirnjoggings zur Vorbeugung oder Verlangsamung von Demenzen zu beurteilen. Ein Versuch lohnt sich immer – selbst bei dementen Patienten setzen Fachgesellschaften auf Beschäftigungs-, Kunst- oder Musiktherapien. Wer sich zu­sätzlich regelmäßig bewegt und seine sozialen Kontakte pflegt, tut dem ­Denkorgan ebenfalls viel Gutes. /