Allergische Reaktionen ausbremsen |
26.11.2014 10:00 Uhr |
Von Edith Schettler / Heute sind die physiologischen Funktionen des Histamins bestens bekannt. Wissenschaftler haben inzwischen mehrere Generationen von Antihistaminika synthetisiert. Die Entwicklung der letzten 100 Jahre wäre jedoch ohne das unermüdliche Forscherinteresse nicht möglich gewesen. Wie ein kurzer Blick zurück in die Geschichte zeigt, waren an diesem Prozess vor allem deutsche und britische Chemiker und Ärzte beteiligt.
Der Botenstoff Histamin ist unter anderem für die Reaktion des Immunsystems auf Allergene verantwortlich. Jedoch sind die Aufgaben des Histamins nicht auf die Abwehr körperfremder Substanzen beschränkt. Der Botenstoff erfüllt weitere wichtige Aufgaben. So ist er an der Regulation des Schlaf-Wach-Rhythmus, der Steuerung der Magenperistaltik und der Magensäureproduktion beteiligt.
Für diese unterschiedlichen Funktionen bindet Histamin an jeweils verschiedene Rezeptortypen. Vier davon sind bisher bekannt: H1-Rezeptoren in der glatten Muskulatur und im Zentralen Nervensystem (ZNS), H2-Rezeptoren im Magen, in der Lunge und im Herzen, H3-Rezeptoren im ZNS und H4-Rezeptoren im Knochenmark, dem Dünndarm, in der Milz und den Leukozyten.
Zwei deutsche Chemiker synthetisierten im Jahr 1907 Histamin zum ersten Mal. Allerdings war damals die Struktur des körpereigenen Botenstoffes unbekannt, sodass die beiden Wissenschaftler mit der neuen Substanz zunächst nichts anfangen konnten. So galt sie erst einmal als chemische Kuriosität. In einem komplizierten Verfahren über mehrere Synthesestufen hatten A. Windaus und W. Vogt die Substanz Imidazoläthylamin (nach derzeitiger Nomenklatur 2-(4-Imidazolyl)-ethylamin) hergestellt.
Damals wusste noch niemand, dass es sich um Histamin handelte, einen Stoff, den nicht nur Menschen und Tiere, sondern auch viele Pflanzen bilden können. Der Nachweis des Histamins als körpereigene Substanz des Menschen gelang im Jahr 1910 zwei Briten: dem Chemiker Sir Henry Hallett Dale (1875–1968) und dem Mediziner Patrick Playfair Laidlaw (1881–1940). Beide Forscher klärten daraufhin eine Reihe seiner Funktionen auf. So fanden sie heraus, dass Histamin auf die glatte Muskulatur wirkt und den Blutdruck sowie die Herzfrequenz beeinflusst. Sie isolierten Histamin aus der Lunge und aus der Leber des Menschen, womit die Bedeutung der Substanz für zahlreiche physiologische Prozesse offensichtlich wurde. In einer großen Studie wiesen sie ebenfalls die bronchokonstriktorische Wirkung des Histamins und seine Bedeutung bei allergischen Reaktionen nach.
Substanz mit einfacher molekularer Struktur, aber zahlreichen physiologischen Funktionen: Histamin
Foto: Shutterstock/Copit
Zu Beginn der 1920er-Jahre hatten die Wissenschaftler bereits eine klare Vorstellung von der Anatomie des Nervensystems und der Weiterleitung elektrischer Impulse entlang der Neuronen. Die biogenen Amine Adrenalin und Acetylcholin entdeckten sie in den 1930er-Jahren und brachten sie in Zusammenhang mit der Funktion der Nervenfasern.
Toxisches Antihistaminikum
Auf Basis dieser Erkenntnisse arbeitete am Pariser Institut Pasteur eine Gruppe von Wissenschaftlern unter der Leitung von Ernest Fourneau (1872–1949) an der Entwicklung von Hemmstoffen des Neurotransmitters Acetylcholin. Der Pharmakologe Daniel Bovet (1907–1992) testete neben dem Pfeilgift Curare verschiedene von Fourneau hergestellte Substanzen als potenzielle Hemmstoffe von Acetylcholin. Seiner Doktorandin Anne-Marie Staub (1914–2012) übertrug er die Aufgabe, Antagonisten für das Histamin zu finden – mit Erfolg: Die junge Forscherin wies im Jahr 1937 erstmals im Tierversuch die Histamin hemmende Wirkung der Substanz F 929 (Thymoxyethyldiethylamin) zweifelsfrei nach, die ihr Doktorvater synthetisiert hatte. Straub provozierte bei Meerschweinchen durch Applikation einer Dosis Histamin einen anaphylaktischen Schock, der durch F 929 verhindert werden konnte. Leider erwies sich die Substanz als zu toxisch für die Anwendung beim Menschen. Bovet führte daraufhin tausende Experimente durch, um ein verträgliches Antihistaminikum zu entwickeln. Im Jahr 1944 hatte er mit Pyrilamin endlich Erfolg. Für seine Forschungen erhielt Bovet im Jahr 1957 den Nobelpreis für Medizin und Physiologie.
Zur gleichen Zeit konnte der russischstämmige Arzt und Pharmakologe Bernard Halpern (1904–1978) in den Labors der Pharmafirma Rhône-Poulenc bei Versuchen mit Schlangengift belegen, dass der anaphylaktische Schock durch Histamin ausgelöst wird. Mit großem Interesse nahm er die Forschungsergebnisse seiner Pariser Kollegen zur Kenntnis. Den Ethylendiamin-Grundkörper von Fourneaus Substanz F 929 wandelten die Chemiker von Rhône-Poulenc so lange ab, bis Halpern mit Phenbenzamin (N-diethylaminoethyl-N-benzyl-anilin) im Jahr 1942 einen für Menschen verträglichen und gut wirksamen Arzneistoff gefunden hatte.
Das erste Arzneimittel
Rhône-Poulenc vermarktete das erste H1-Antihistaminikum unter dem Namen Antergan®. Die forschende Pharmaindustrie reagierte schnell auf diese Entwicklung, viele weitere Substanzen folgten. Einige Vertreter dieser Antihistaminika der ersten Generation sind noch heute für die Indikationen allergische Rhinitis, Asthma und Urtikaria zugelassen, beispielsweise Diphenhydramin, eine der ältesten Substanzen dieser Gruppe, die bereits 1943 von dem US-amerikanischen Chemiker George Rieveschl (1916–2007) synthetisiert worden war.
Unabhängig von den französischen Entwicklungen hatte der deutsche Chemiker Gustav Ehrhart (1894–1971) im Jahr 1939 das Antihistaminikum Phenpipran synthetisiert, dessen Nachfolger Mepyramin noch heute unter anderem in der Schweiz im Handel ist.
Die H1-Antihistaminika der ersten Generation wirken nicht nur an der glatten Muskulatur, sondern durchdringen wegen ihrer Lipophilie auch die Blut-Hirn-Schranke und besetzen die H1-Rezeptoren im ZNS. Die daraus folgenden stark sedierenden Nebenwirkungen schränken ihren Einsatz als Antiallergika ein, eröffnen aber gleichzeitig neue Indikationsgebiete als Schlaf- und Beruhigungsmittel und zur Behandlung von Kinetosen. Mit dem Ziel, die zentralen Nebenwirkungen zu umgehen, synthetisierten Forscher weniger lipophile Substanzen wie Terfenadin, Cetirizin und Loratadin – die sogenannten Antihistaminika der zweiten Generation.
Im Jahr 1972 unterschied der britische Pharmakologe James Whyte Black (1924–2010) als erster zwischen Histamin-H1- und -H2-Rezeptoren und entwickelte mit Cimetidin das erste therapeutisch genutzte H2-Antihistaminikum zur Hemmung der Magensäureproduktion.
Ein weiterer Subtyp (H3-) des Histamin-Rezeptors wurde im Jahr 1983 mithilfe pharmakologischer Methoden entdeckt. Ein vierter folgte im Jahr 2000 durch Entschlüsselung des menschlichen Genoms (H4-). Mit der Entwicklung spezifischer Antagonisten gegen diese beiden Subtypen könnten sich neue Behandlungsoptionen für ADHS, Narkolepsie, Morbus Alzheimer und diverse mit Entzündungen einhergehende Erkrankungen ergeben. /