Sixpack für seltene Erkrankungen |
09.10.2018 11:25 Uhr |
Von Sven Siebenand / Anfang Oktober kamen gleich sechs neue Arzneistoffe auf den deutschen Markt. Allesamt zählen sie zu den Orphan Drugs, den Medikamenten zum Einsatz bei seltenen Erkrankungen, für deren Entwicklung pharmazeutische Unternehmen mit finanziellen und administrativen Anreizen unterstützt werden. Das Fördersystem funktioniert offenbar bestens.
Zu den seltenen Erkrankungen zählt zum Beispiel die hereditäre Transthyretin-vermittelte Amyloidose (hATTR). Bei dieser Krankheit ist infolge einer Genmutation Transthyretin, das Transporteiweiß des Schilddrüsenhormons Thyroxin, defekt. Das schadhafte Transthyretin lagert sich im Gewebe und Organen ab, etwa in peripheren Nerven, dem Magen-Darm-Trakt, den Nieren und dem Herzen. Die normale Funktion der Organe wird dadurch behindert. Betroffene haben in der Regel eine Lebenserwartung von 2,5 bis 15 Jahren ab Symptombeginn. Als therapeutische Optionen gab es bisher unter anderem den Transthyretin-Stabilisator Tafamidis (Vyndaqel®). Auch eine Lebertransplantation können Ärzte in Erwägung ziehen.
Spritzen gegen die Erkrankung. Alle Orphan Drugs des Monats Oktober sind intravenös zu applizieren.
Foto: iStock/busracaus
Patisiran und Inotersen
Patisiran (Onpattro® 2 mg/ml Konzen- trat zur Herstellung einer Infusionslösung, Alnylam) und Inotersen (Teg- sedi® 284 mg Injektionslösung in einer Fertigspritze, Ionis) sind zwei neue Therapieoptionen für Patienten mit dieser seltenen Erkrankung. Die in den Fachinformationen genannten Einsatzgebiete lauten sehr ähnlich: Inotersen ist zugelassen zur Behandlung von Polyneuropathie der Stadien 1 und 2 bei erwachsenen Patienten mit hATTR, Patisiran zur Behandlung erwachsener hATTR-Patienten mit Polyneuropathie im Stadium 1 oder 2.
Das Wirkprinzip der beiden neuen Arzneistoffe unterscheidet sich jedoch, am Ende läuft es aber bei beiden darauf hinaus, dass die Bildung von Transthyretin blockiert wird. Patisiran ist das erste sogenannte RNAi-Therapeutikum. Was bedeutet das? RNA-Interferenz (RNAi) ist ein natürlicher zellulärer Prozess, der die gezielte Stilllegung von Genen erlaubt, eine Entdeckung, die im Jahr 2006 mit dem Nobelpreis für Physiologie und Medizin ausgezeichnet wurde. Kurze RNA-Stücke, sogenannte small interfering RNA (siRNA), führen im Organismus dazu, dass komplementäre mRNA selektiv abgebaut wird. Somit steht diese mRNA nicht mehr für die Proteintranslation zur Verfügung und die Menge des von ihr kodierten Proteins in der Zelle nimmt ab. Im Fall von Patisiran wird doppelsträngige siRNA eingebracht, die die für Transthyretin kodierende mRNA letztlich wirksam ausschaltet und so gezielt die Bildung dieses Proteins verhindert. Dadurc lassen sich die schädlichen Ablagerungen verhindern.
Inotersen ist dagegen ein sogenanntes Antisense-Oligonukleotid. Es ist einzelsträngig. Grundprinzip der Antisense-Technologie ist es, Oligonukleotide zu verwenden, die exakt komplementär zu einer kurzen mRNA-Sequenz des Zielproteins sind und die über die Basenpaarung an den entsprechenden Abschnitt der mRNA binden. So wird die Translation der mRNA in ein funktionsfähiges Protein unterbunden. Auf diesen Weg kann auch mithilfe von Inotersen die Produktion des fehlerhaften Proteins Transthyretin unterbunden werden.
Vestronidase alfa
Mucopolysaccharidose Typ VII (MPS VII, Sly-Syndrom) ist eine seltene, erblich bedingte Stoffwechselerkrankung. Sie wird durch einen Mangel an Beta-Glucuronidase ausgelöst, einem Enzym, das am Abbau von Glycosaminoglykanen (GAG) beteiligt ist. Der beeinträchtigte Abbau von GAG führt zu einer fortschreitenden Anhäufung dieser Substanzen in vielen Geweben und Organen und kann dort erhebliche Schäden verursachen. Bisher gab es keine zugelassenen Therapien für MPS VII. Das hat sich mit der Markteinführung von Vestronidase alfa (Mep- sevii® 2 mg/ml Konzentrat zur Herstellung einer Infusionslösung, Ultragenyx) geändert. Es handelt sich dabei um eine Enzymersatztherapie. Der Ersatz des fehlenden Enzyms bewirkt, dass der Abbau von GAG unterstützt und sein Aufbau im Körper gestoppt wird. Zugelassen ist das neue Medikament zur Behandlung nicht-neurologischer Krankheitsanzeichen der MPS VII.
Trientin
Cuprior® 150 mg Filmtabletten von der Firma GMP-Orphan SA ist ein Arzneimittel zur Behandlung von Patienten im Alter ab fünf Jahren mit der Wilson-Krankheit. Dies ist eine genetische Erkrankung, bei der sich aus der Nahrung resorbiertes Kupfer im Körper, vor allem in der Leber und im Gehirn, anreichert und dadurch Schäden verursacht. Das neue Präparat wird bei jenen Patienten eingesetzt, die eine Unverträglichkeit gegen D-Penicillamin, ein anderes Arzneimittel gegen diese Erkrankung, aufweisen. Enthalten ist in dem neuen Medikament der Wirkstoff Trientin, ein Kupferchelatbildner. Er wirkt, indem er an Kupfer im Körper bindet und einen Komplex bildet, der anschließend über den Urin ausgeschieden wird. Zudem kann Trientin Kupfer im Darmtrakt komplexieren und dadurch die Resorption von Kupfer hemmen. Der Serum-Kupfer-Spiegel bei Patienten mit Wilson-Krankheit kann damit verringert werden.
Metreleptin
Der fünfte Neuling ist Metreleptin (Myalepta® 11,3 mg Pulver zur Herstellung einer Injektionslösung, Aegerion Pharmaceuticals). Dies ist ein Arzneimittel, das zusätzlich zur Ernährung angewendet wird, um eine Lipodystrophie zu behandeln. Bei dieser Erkrankung weisen die Patienten einen Verlust von Fettgewebe unter der Haut sowie eine Anreicherung von Fett an anderen Körperstellen auf. Das Arzneimittel wird bei Erwachsenen und Kindern ab zwei Jahren mit generalisierter, also im gesamten Körper auftretender Lipodystrophie (Berardinelli-Seip-Syndrom und Lawrence-Syndrom), eingesetzt. Zudem besitzt es eine Zulassung bei Erwachsenen und Kindern ab zwölf Jahren mit partieller Lipodystrophie, wenn Standardbehandlungen nicht wirksam waren.
Die klinische Symptomatik bei Patienten mit Morbus Sly ist vielfältig und kann sehr variabel sein. Hier führte sie in den Rollstuhl.
Foto: Ultragenyx
Patienten mit Lipodystrophie haben geringe Konzentrationen des Hormons Leptin, welches eine wichtige Rolle beim Abbau von Fetten und Zuckern im Körper spielt. Dies führt zum Verlust von Fett unter der Haut und in der Folge zu einer Anreicherung an anderer Stelle sowie zu hohen Blutfettwerten. Ferner resultiert daraus eine Insulinresistenz, bei der der Körper nicht in der Lage ist, Insulin zu erkennen. Metreleptin ist Leptin ähnlich. Der Wirkstoff ersetzt Leptin und erhöht den Fettabbau in Blut, Muskeln und Leber und behebt dadurch einige der Anomalien bei Patienten mit Lipodystrophie, einschließlich Insulinresistenz. Wichtig zu wissen: Das Fettgewebe unter der Haut lässt sich damit nicht beeinflussen.
Caplacizumab
Der Antikörper Caplacizumab (Cablivi® 10 mg Pulver und Lösungsmittel zur Herstellung einer Injektionslösung, Sanofi Genzyme) ist der sechste neue Wirkstoff gegen seltene Er- krankungen auf den Markt in diesem Monat. Caplacizumab ist ein Arzneimittel für die Behandlung Erwachsener mit einer Episode erworbener thrombotischer thrombozytopenischer Purpura (aTTP), einer Blutgerinnnungsstörung. Während einer aTTP-Episode bilden sich in kleinen Blutgefäßen Blutgerinnsel und der Patient weist eine geringe Thrombozytenanzahl auf. Der Antikörper wird zusammen mit einem Plasma- austausch und Immunsuppression angewendet. Er stellt also eine wichtige Ergänzung zur Standardtherapie für Patienten mit aTTP dar.
Wie wirkt Caplacizumab? Bei Patienten mit aTTP sind die Werte des von-Willebrand-Faktors erhöht. Dieser veranlasst die Thrombozyten dazu, miteinander zu verkleben und Blutgerinnsel zu bilden. Caplacizumab bindet an den von-Willebrand-Faktor mit der Folge, dass dieser seine Wirkung auf die Thrombozyten nicht mehr entfalten kann. Dies reduziert die miteinander verklebenden Thrombozyten sowie die Bildung von Gerinnseln in den Blutgefäßen und hat einen Anstieg der Thrombozyten-Zahl im Blut zur Folge. /