Brüllen ohne Ende |
14.11.2016 11:47 Uhr |
Von Elke Wolf / Klassische Bauchschmerzen haben als Ursache für häufige Schreiattacken im Säuglingsalter ausgedient. Denn die Luft im Bauch ist nicht der Grund, sondern die Folge des Luftschluckens während des Schreiens. Experten sehen das Schreien eher als Ausdruck einer verzögerten Verhaltensregulation.
Nichts hilft: kein Stillen, kein Herumtragen, kein Schmusen. Das Baby schreit und schreit, vornehmlich in den Abendstunden. Dabei war kurz zuvor noch alles in bester Ordnung. Von jetzt auf gleich ist es aber durch nichts zu beruhigen. Die Kleinen ballen die Fäuste zusammen, spannen scheinbar alle Muskeln, überstrecken sich mitunter und haben oftmals einen harten, geblähten Bauch. Der Kopf ist vom Schreien hochrot.
Foto: Shutterstock/Yulia Vybornyh
Die meisten Schreibabys beginnen ihre »Schreikarriere« etwa in einem Alter von zwei Wochen. Bis zu 16 Prozent der Babys sollen es laut dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) in Deutschland sein. Diese Unruhephasen nehmen dann an Intensität bis zur sechsten Lebenswoche zu. Mit dem Alter lassen die Schreitiraden jedoch wieder nach. Sind die Betroffenen ein halbes Jahr alt, sollen es nur noch 2,5 Prozent Schreibabys sein.
Wie viel Weinen und Unruhigsein ist eigentlich in den Anfangs-Lebensmonaten normal? Es gibt eine Definition für Schreibabys, die allerdings schon über 60 Jahre alt ist. Professor Dr. Morris Wessel, Pädiater an der Universität Yale in den USA, dachte sich eine Art Dreisatz für schreigeplagte Eltern aus: Wenn ein ansonsten gesundes, gut versorgtes Kind drei Stunden am Tag weint und jammert, an drei Tagen in der Woche, drei Wochen hintereinander, dann weint es zu viel. An dieser Richtschnur hat sich bis heute nichts geändert.
Luft nicht die Ursache
Wohl aber an den vermeintlich zugrundeliegenden Ursachen. Einst machte man die Luft im Bauch für das Schreien verantwortlich, weil sie Bauchschmerzen und Blähungen verursacht. Auch heute ist oft noch von Dreimonatskoliken als Auslöser die Rede. Tatsächlich zeigen Untersuchungen keinen Unterschied der Gasmenge im Darm zwischen gesunden und Schreibabys, teilt der BVKJ mit. Die Luft komme vielmehr erst durch das Luftschlucken während der Schreiattacken in den Bauch. Nur einem Teil der Kinder bringen dann auch ätherische Öle, Tees und Entschäumer-Tropfen aus der Apotheke Linderung.
Fehleinordnung der Signale
Was den Kindern zu schaffen macht, so vermuten Wissenschaftler heute, ist das Leben an sich: Die Neuankömmlinge müssen eine Menge lernen, sie müssen viele Reize verarbeiten und einen Rhythmus finden zwischen Wachen und Schlafen, also Dinge lernen, die Fachleute als Selbstregulation bezeichnen. Die meisten Kinder schaffen das sehr gut. In den Wachphasen sind sie aufmerksam und schalten ab, wenn zu viel auf sie einstürmt. Sie sind auch in der Lage, sich selbst zu beruhigen, wenn alles zu viel wird. Sie nuckeln dann etwa am Finger oder am Schnuller.
Die anderen haben diese Entwicklungsphase noch nicht bewältigt. Deshalb sehen Wissenschaftler das Schreien als Ausdruck einer verzögerten Verhaltensregulation oder einer frühkindlichen Regulationsstörung. Dieser Theorie zufolge kann das Baby mit den Reizen, die aus seiner Umgebung oder seinem Körper kommen, mit Licht oder Lärm, mit dem Grummeln im eigenen Bauch noch nicht umgehen. Es ist noch nicht in der Lage, sich selbst zu beruhigen und selbst einzuschlafen. Die Kinder lassen sich im Vergleich mit Altersgenossen weniger gut beruhigen. Warum allerdings manche Babys anfangs so empfindlich auf die Umwelt reagieren, ist nicht geklärt.
Diese Regulationsstörungen wachsen sich aus und bleiben ohne Folgen. Denn im weiteren Verlauf ihres Lebens haben Schreibabys keine gesundheitlichen Einbußen im Vergleich zu ihren gesunden Altersgenossen zu erwarten, wie Untersuchen zeigen.
Runterkommen
Als oberstes Prinzip nennt der BVKJ in diesen Situationen Ruhe zu bewahren. Zudem sei es wichtig, dass die Eltern aufgrund des aufkommenden Stresses nicht laufend von einer Beruhigungsmethode zur anderen wechseln. Der Frust und die Angespanntheit der Eltern übertragen sich so nur auf die kleinen Schreihälse. Dem Kind müsse Raum und Zeit gegeben werden, auf eine Maßnahme zu reagieren. »Regulation« müsse das Kind selbst lernen, Eltern könnten diesen Prozess nur wenig bis kaum erleichtern.
Beruhigung für Körper und Seele
Folgende Beruhigungsmaßnahmen hält der Bundesverband für Kinder- und Jugendmedizin für hilfreich:
Nervenaufreibend
Die täglichen, zum Teil mehrstündigen Schreiattacken bringen die Eltern nicht selten an den Rand der Verzweiflung. Chronischer Schlafmangel und Überforderung zehren an den Nerven. Gestresste Eltern reagieren immer heftiger, wenn sich das Baby nicht beruhigen lässt. Schreibabys sind laut Studien besonders gefährdet, ein Schütteltrauma zu erleiden, weil unwissende Eltern es in ihrer Verzweiflung schütteln. Das kann für das Baby schwerwiegende Schäden bedeuten. Der BVKJ nennt etwa 400 Fälle von Schütteltraumen jährlich.
Vermitteln Eltern in der Apotheke den Eindruck, mit der Situation überfordert zu sein oder darunter sehr zu leiden, sollten PTA und Apotheker auf den Pädiater verweisen. Dieser vermittelt an »Schreiambulanzen«, die zum Teil Kinderkliniken angeschlossen sind. Eine Linkliste findet sich unter www.schreibaby.de. Ziel dieser Ambulanzen ist es, den Eltern mehr Selbstvertrauen zu vermitteln und ihr Kind dadurch besser interpretieren zu lernen. /