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Atropin

Die Frauen mit den schönen Augen

23.11.2015  12:26 Uhr

Von Edith Schettler / Als Ophthalmikum und Antidot spielt das Atropin seit Jahrhunderten eine wichtige Rolle, selbst die heutige Medizin kann auf den Pflanzeninhaltsstoff nicht verzichten. Die Entdeckung seiner Wirkung reicht bis in die Renaissance zurück.

Atropin ist ein Racemat, das heißt ein Gemisch aus gleichen Teilen der zwei spiegelbildlichen Isomeren S- und R-Hyoscyamin. Das Atropin entsteht aus S-Hyoscyamin erst dann, wenn das Pflanzenmaterial getrocknet oder das Alkaloid isoliert wird. Vor allem die Blätter der Tollkirsche enthalten Atropin bis zu 1,5 Prozent. Der Gehalt der Früchte beträgt nur ungefähr 0,65 Prozent. Dennoch führen die Früchte weitaus häufiger zu Vergiftungen, weil sie leicht mit essbaren Steinfrüchten verwechselt werden.

Atropin kommt auch in anderen Nachtschattengewächsen vor, beispielsweise in Alraunen (Mandragora), Engelstrompete (Brugmansia) und Stechapfel (Datura stramonium). Ihr Entdecker, der deutsche Apotheker Philipp Lorenz Geiger (1785–1836) gab der Substanz den Namen. Er hatte das Alkaloid im Jahr 1824 aus Atropa belladonna, der Schwarzen Tollkirsche isoliert. Diese Giftpflanze wiederum verdankt ihren Namen der griechischen Schicksalsgöttin Atropos (die Unabwendbare, die den Lebensfaden zerschneidet). Der deutsche Name erklärt sich wiederum aus den Symptomen, die bei einer Vergiftung auftreten.

Die Pflanze, die toll macht

Die Autoren vieler Kräuterbücher weisen auf die Toxizität der Pflanze und ihre zentral stimulierende Wirkung hin. So steht zum Beispiel im »Gart der gesuntheit« aus dem Jahr 1485: »Diß krut und wurtzel nutzet man in der artzeny… Item welche frauwe diß kruts oder wurtzel nutzet die fellet gern in ein krangheit mania genant das ist hirn wüstig. vnd darumb sollen alle menschen diß meyden … sunderlich die frauwen…« Diese Schilderung erklärt recht gut den Namen »Tollkirsche«, das Wort »toll« bedeutete damals so viel wie »verrückt«. Als Parasympatholytikum konkurriert Atropin an den muskarinergen Rezeptoren mit dem körpereigenen Acetylcholin und hebt dessen Wirkung auf. Die zentralen Wirkungen treten erst bei höheren Dosen auf: Zunächst beschleunigt sich der Herzschlag, Schweiß- und Speichelbildung gehen zurück und die glatte Muskulatur erschlafft.

Im Auge erweitert Atropin die ­Pupille und bewirkt vorübergehende Weit­sichtigkeit. Die Bezeichnung »Belladonna« findet sich zuerst im Kräuterbuch des Pietro Andrea Mattioli (1501–1577). Der italienische Botaniker erklärte, in Venedig hieße die Pflanze so, da die Beeren so reizvoll und verlockend seien wie eine schöne Frau. Spätere Quellen bringen den Namen mit kosmetischen Präparaten in Verbindung, die den Damen zu großen Pupillen verhalfen, weil sie möglichst feurig und verlockend erscheinen wollten. So träufelten sich die Italienerinnen im Mittelalter vor einem Rendezvous den Saft aus Tollkirschen in die Augen. Danach wirkten sie mit ihren schwarzen Augen anziehend auf die Männer, konnten diese aber aus der Nähe leider nicht mehr so gut erkennen.

Im Mittelalter wurde die Tollkirsche als Hexenkraut verwendet, da ihre Inhaltsstoffe halluzinogen wirken. Wie Bilsenkraut und Stechapfel war sie Bestandteil der sogenannten Flug- oder Hexensalben, die Wahnvorstellungen von Flugerlebnissen oder der Verwandlung in Tiere auslösten. Hildegard von Bingen (1098–1179) brachte die Tollkirsche mit dem Teufel in Verbindung und warnte vor der zerrüttenden Wirkung der Droge auf die menschliche Psyche.

Wissenschaftliche Erforschung

Auf die medizinische Anwendung der Tollkirsche ging als erster der britische Naturforscher John Ray (1627–1705) im Jahr 1686 in seinem Werk »Historia generalis plantarum« ein. Ausführlich erläuterte er die Möglichkeit der Anwendung von Atropa belladonna in der Augenheilkunde. Auch der schwedische Botaniker Carl von Linné (1707–1778) beschrieb die Pflanze in seinem Arzneipflanzen-Katalog »Materia medica«. Als ihre zentralen Wirkungen nannte er halluzinogene, paralysierende und narkotisierende Effekte und beschrieb ihre Anwendung gegen Ruhr, Entzündungen, Brustkrebs und Fisteln.

Die Reindarstellung des Alkaloids in Form weißer Kristalle gelang im Jahr 1831 als erstem dem Apotheker Heinrich Friedrich Georg Mein (1799–1864) in seinem Apothekenlabor in Esens, Ostfriesland. Mein untersuchte die physikalischen und chemischen Eigenschaften des neuen Stoffes und ordnete die bis dahin unbekannte Substanz in die Gruppe der »organischen Alka­lien« ein. Im Jahr 1833 veröffentlichte er seine Ergebnisse in den »Annalen der Pharmacie«.

Neue Möglichkeiten für die Medizin

Nachdem die Augenärzte schon im 18. Jahrhundert Belladonna-Presssaft benutzt hatten, um Pupillen vor einer Staroperation weit zu stellen, ergaben sich nun neue Möglichkeiten. Die Verwendung der reinen Substanz verringerte die Häufig­keit der Komplikationen und zentralen Nebenwirkungen. Somit wurde die Anwendung der Ophthalmika für Patienten und Ärzte sicherer. Atropin wurde jetzt auch zur Behandlung der Iritis eingesetzt, einer Entzündung der Regenbogenhaut des Auges. In diesen Fällen sollte das Alkaloid das Schließen und nachfolgende Verkleben der Pupille verhindern. Doch die reine Substanz war teuer und rar: Noch im Jahr 1845 kostete das Gran (etwa 60 bis 65 Milligramm) einen Franken und war damit für die meisten Patienten unerschwinglich.

Allerdings verdrängte die Therapie mit Atropin den Belladonna-Extrakt aus den ophthalmologischen Lehr­büchern. Hier lernten die Studierenden die genauen Dosierungen für Augentropfen. Das hauptsächliche Anwendungsgebiet des Atropins lag in den Anfangsjahren jedoch in der Asthmabehandlung. Die Patienten erhielten die Substanz entweder injiziert oder in Form einer Asthma-Zigarette zur Bronchodilatation. Wegen der zentralen Nebenwirkungen sind diese Anwendungen nicht mehr gebräuchlich.

Herstellung im industriellen Maßstab

Im Jahr 1901 stellte der deutsche Chemiker und spätere Nobelpreis­träger Richard Willstätter (1872–1942) Atropin erstmals auf synthetischem Wege her. Die im Jahr 1885 neu gegründete Firma C. H. Boehringer Sohn in Nieder-Ingelheim produzierte das Alkaloid daraufhin ab dem Jahr 1905 im industriellen Maßstab, da der Bedarf die Kapazi­täten eines Apothekenlabors weit überstieg. Nach der Gründung einer Interessengemeinschaft (IG) dreier Arzneimittelhersteller, der auch die Firma Boehringer beigetreten war, übernahm die Firma Merck KGaA kurz darauf die Herstellung von Atropin aus Ägyptischem Bilsenkraut.

In Deutschland sind noch Atropin-Zubereitungen für diagnostische ­Zwecke im Handel, um die Akkomodation am Auge auszuschalten, Iris und Ziliarkörper beispielsweise bei Irisentzündungen oder -ver­letzungen ruhig zu stellen. Außerdem dient das Alkaloid nach wie vor als Antidot bei Vergiftungen mit Parasympathomimetika. /