»Patienten aktiv einbinden« |
23.11.2015 12:26 Uhr |
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Hartmut Göbel, einer der beiden federführenden Autoren der DGS-Praxis-Leitlinie »Primäre Kopfschmerzerkrankungen«, ist Direktor der Schmerzklinik Kiel, die einen exzellenten Ruf weit über Schleswig-Holstein hinaus besitzt: 70 Prozent der Schmerzpatienten, die hier Hilfe suchen und finden, reisen aus dem gesamten Bundesgebiet und dem Ausland an.
PTA-Forum: Die DGS-Praxis-Leitlinien stützen sich nicht nur auf wissenschaftliche Studien, sondern auch auf die Erfahrung von Ärzten und Patienten und heben sich damit bewusst von anderen Leitlinien ab. Was ist der Grund?
Hartmut Göbel
Göbel: Gute Leitlinien sollten aus unserer Sicht externe Evidenz, praktische Erfahrungen und die Erwartungen Betroffener gleichwertig berücksichtigen, denn nur dann ergeben sich daraus große Chancen für eine nachhaltige Verbesserung der Patientenversorgung. Leitlinien, die primär allein auf Studiendaten beruhen, können dies aus unserer Sicht nicht leisten.
Vor diesem Hintergrund haben die Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie und die Deutsche Schmerzliga als größte Selbsthilfeorganisation schmerzkranker Menschen in Deutschland beschlossen, die DGS Praxis-Leitlinien gemeinsam zu entwickeln. Die Beteiligung der Deutschen Schmerzliga betrifft alle Phasen der Leitlinienentwicklung.
PTA-Forum: Wann ist bei Kopfschmerzen eine Selbstmedikation vertretbar, wann gehören Kopfschmerzpatienten in ärztliche Behandlung?
Göbel: Bei unklaren, neu auftretenden oder sich verändernden Kopfschmerzen sollte immer eine differentialdiagnostische Abklärung stattfinden. Aber auch, wenn bereits eine primäre Kopfschmerzerkrankung diagnostiziert wurde, sollte keine unlimitierte Selbstmedikation erfolgen. Als Faustregel kann gelten, dass eine Selbstmedikation mit Analgetika auf weniger als 10 Tage pro Monat beschränkt sein sollte. Darauf sollten PTA und Apotheker unbedingt achten.
Wir müssen möglichst verhindern, dass Kopfschmerzen chronisch werden. Primäre Kopfschmerzen beruhen auf einer Störung des körpereigenen Sinnessystems für die Schmerzwahrnehmung. Im Gehirn geht laufend eine Flut von Signalen der im ganzen Körper vorhandenen Schadenssensoren ein. Zum Beispiel melden Rezeptoren aus der Nackenmuskulatur, wenn wir zu lange in ungünstiger Haltung vor dem Computer verbracht haben. Wird eine solche Fehlhaltung zur Gewohnheit, kann das zu einer veränderten Schmerzempfindlichkeit führen mit chronischen Spannungskopfschmerzen als Folge. Es leuchtet ein, dass Analgetika hier nicht die Lösung sind. Es besteht sogar die Gefahr, dass die Kopfschmerzen durch unkontrollierte Einnahme von Analgetika noch verschlimmert werden. Die erfolgreiche Therapie primärer Kopfschmerzen erfordert multimodale – mehrgleisige – Konzepte, die auf den individuellen Patienten zugeschnitten sind. Dabei müssen die Patienten aktiv eingebunden werden – das ist ganz entscheidend: Patienten können lernen, mit dem Schmerz umzugehen, auslösende Faktoren zu korrigieren und sogar ihre Schmerzwahrnehmung zu verändern.
PTA-Forum: Die Schmerzklinik in Kiel ist Vorreiter in differenzierter Kopfschmerztherapie. Wie sieht es mit der flächendeckenden Versorgung von Kopfschmerzpatienten aus?
Göbel: Basierend auf unserem Modellprojekt, mit dem wir 1997 gestartet sind, wurde das Deutsche Kopfschmerzbehandlungsnetzwerk etabliert, sodass heute jeder Kopfschmerzpatient bundesweit in Wohnortnähe qualifiziert behandelt werden kann. Da das multimodale Konzept nachweislich effektiv und kostensparend ist, werden die Leistungen von den Krankenkassen übernommen. Schmerzexperten vor Ort können über www.schmerzklinik.de gefunden werden. /