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Pockenviren

Ausgerottet und doch noch da

Sie haben in der Geschichte vermutlich Kriege entschieden und Völker ausgelöscht und gelten nun seit 1980 selbst als eradiert: die Pocken. Trotzdem beschäftigen sich Forscher weiter mit den Viren, denn noch ist nicht sicher, dass die Krankheit nicht eines Tages zurückkommt. Ihr Genom lässt sich bereits relativ leicht im Labor nachbauen.
Edith Schettler
18.05.2021  16:00 Uhr

Vermutlich haben Nagetiere das Pockenvirus Variola vera auf den Menschen übertragen. Forscher vermuten, dass das vor etwa 12.000 Jahren im arabischen Raum geschah. Läsionen in den Gesichtern von Mumien aus dem Altertum deuten die Wissenschaftler als Pockennarben. Ägyptische Händler könnten die Viren nach Asien getragen haben, wo sie das Reitervolk der Hunnen weiterverbreitet haben könnte. Nach Europa kamen die Pocken vermutlich mit römischen Legionen, die zuvor in Persien gekämpft hatten.

Die portugiesischen und spanischen Seefahrer brachten wohl die Pockenviren im 16. Jahrhundert über den Atlantik nach Amerika. Direkt nach der Eroberung dezimierten verheerende Epidemien die Ureinwohner, während die Spanier und Portugiesen eine hohe Immunitätsrate hatten. Manche indigenen Stämme verloren durch die Krankheit 90 Prozent ihrer Angehörigen. Als letzten bewohnten Kontinent eroberten die Viren Australien im 18. Jahrhundert.

Im Jahr 2016 erregten die Ergebnisse eines internationalen Forscherteams Aufsehen, das aus DNA-Analysen schlussfolgerte, dass das heute bekannte Pockenvirus erst nach dem Jahr 1580 entstand. Entspricht diese These den Tatsachen, dann hat das Virus die Geschichte erst sehr viel später beeinflusst als bisher angenommen.

Eigene Fabrik

Pockenviren gehören mit einem Durchmesser zwischen 200 und 400 nm zu den größten bekannten Viren. Sie wurden bereits vor der Erfindung des Elektronenmikroskops entdeckt, da sie mit etwas Glück im Lichtmikroskop sichtbar sind.

Eine relativ große doppelsträngige DNA, die nur sehr selten mutiert, enthält den Bauplan für bis zu 300 Proteine. Sie ist umgeben von Strukturproteinen und mehreren Enzymen. Eine lipoproteinhaltige Membran umschließt den Kern. Außerhalb des Kernes liegen sogenannte Lateralkörper, die ebenfalls aus Proteinen bestehen und deren Funktion noch nicht geklärt ist. Nach außen schützen ein bis zwei Hüllen aus Lipiddoppelmembranen das Virion.

Während sich die meisten Viren im Zellkern ihrer Wirtszelle vermehren und dafür deren Proteasen und andere zelluläre Faktoren nutzen, reproduzieren sich die Pockenviren im Zytoplasma. Dazu bringen sie ihre eigenen Enzyme mit. Der Ort in der Wirtszelle, an dem die Produktion der Virusbestandteile stattfindet, trägt die Bezeichnung Viroplasma oder viral factory.

Zunächst findet im Kern des Virus die Synthese der mRNA statt, im Anschluss lösen sich die Kapsidhülle und die Membran auf und setzen das genetische Material frei. Im Viroplasma erfolgen dann die Replikation der DNA und die Transkription der Gene. Eine Membran, zum Teil aus dem Material des Golgi-Apparates gebildet, umhüllt die neu entstandene DNA, bevor das fertige Virus die Wirtszelle zerstört, um sie zu verlassen, und weiter durch den Körper bis in die Epidermis wandert. Seine Übertragung erfolgt mit der Atemluft, mit Exkrementen und über Hautkontakt. Ähnlich wie Bakterien bilden die Viren spezielle Gewebshormone, die das unspezifische Immunsystem des Wirtes blockieren. Die ersten Krankheitszeichen treten deshalb direkt an der Eintrittsstelle in den Körper auf.

Im Laufe der Jahrhunderte mutierte Variola vera mehrmals und passte sich dem Menschen immer besser an. So verlor es nutzlos gewordene Rezeptorproteine, die zum Eindringen in tierische Zellen notwendig gewesen waren. Neben dem Erreger der (Menschen-)Pocken gehören noch weitere sieben Gattungen zu den Wirbeltier-Pockenviren, die bekanntesten sind das Affen- (Monkeypox virus MPV) und das Kuhpocken-Virus (Cowpox virus CPXV). Es existieren auch Pockenviren, die Wirbellose infizieren, sie bilden die Unterfamilie der Entomopoxviren.

Kampf gegen tödliche Seuche

Etwa zwei Wochen nach der Ansteckung beginnt die Erkrankung mit hohem Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen und Bläschen an der Eintrittsstelle: meist in Mund und Rachen. Der Patient ist in diesem Stadium hoch ansteckend. Nach dem akuten Stadium breitet sich das Virus im Körper aus und erzeugt überall auf der Haut zeitgleich den typischen Ausschlag mit virengefüllten Bläschen. Dieser ist namensgebend für die Krankheit. Im Germanischen bedeutet das Wort »Pocke« so viel wie Beutel oder Blase. Im Mittelhochdeutschen gab es dafür den Ausdruck »Blatter«. Im Englischen entstand die Bezeichnung smallpox als Unterscheidung zur Syphilis (great pox).

Die Hautläsionen heilen nach circa zwei Wochen unter Krustenbildung ab und hinterlassen eine Narbe. Erst danach ist der Patient nicht mehr ansteckungsfähig. In den abgefallenen Borken bleiben die Virionen Monate bis Jahre infektiös. Nach der Krankheit besteht eine lebenslange Immunität durch die Bildung von Antikörpern und zytotoxischen Lymphozyten. Mehr als ein Drittel der Infizierten überlebt die Erkrankung nicht. Im 20. Jahrhundert starben mehr als 300 Millionen Menschen an den Pocken. Die letzte natürliche Erkrankung trat in Deutschland im Jahr 1972 auf, die letzte weltweit 1977 in Somalia.

Zur Behandlung der Krankheit ist in den USA der Wirkstoff Tecovirimat zugelassen. Das Virustatikum hemmt die Bildung der Virushülle und verhindert damit die Freisetzung der Virionen aus der Wirtszelle. Das Arzneimittel kam bislang nur ein einziges Mal am Menschen zum Einsatz, als sich eine ungeimpfte Labormitarbeiterin mit Probematerial infiziert hatte.

Die vermutliche Ausrottung der Pocken ist das Ergebnis einer von der WHO angeordneten weltweiten Impfpflicht im 20. Jahrhundert. Es gelingt nur dann, Krankheitserreger zu eradieren, wenn sie ausschließlich den Menschen als Wirt nutzen, was bei Variola der Fall ist. Versuche dazu gab es in der Geschichte schon frühzeitig. Bereits im 9. Jahrhundert wussten die persischen Ärzte, dass die Pocken eine lebenslange Immunität hinterlassen. In China und Indien pulverisierten Heilkundige den Schorf der Pockenbläschen kranker Personen und applizierten ihn auf die Nasenschleimhaut der Impflinge oder ritzten ihn in ihre Haut ein. Diese sogenannte Variolation schützte tatsächlich viele Menschen vor einer Ansteckung, allerdings rief sie bei mindestens genauso vielen anderen die Krankheit selbst erst hervor und führte so zu zahlreichen Todesfällen. Trotzdem verbreitete sich die Methode mangels besserer Alternativen.

Den modernen Pockenimpfstoff erfand der Brite Edward Jenner (1749-1823). Als Landarzt wusste er, dass die Kuhpocken auch auf den Menschen übertragbar sind, jedoch nur zu leichten Erkrankungen führen. Aus den Pockenquaddeln entnahm er die infektiöse Flüssigkeit und impfte damit mit großem Erfolg gesunde Probanden. Da der Impfstoff von Kühen stammte, nannte ihn Jenner nach dem lateinischen vacca (Kuh) Vakzine – noch heute ist dieser Fachbegriff für Impfstoffe gebräuchlich. Auch die Impfung mit CPXV ist nicht ganz risikolos, die heute üblichen modifizierten Viren rufen mitunter Nebenwirkungen in Form von Entzündungen des Gehirns oder des Herzens hervor.

An geheimen Orten

Ganz von Pockenviren befreit ist die Welt noch nicht. Offiziell lagert Variola vera unter strengem Verschluss noch in den Forschungszentren der US-amerikanischen Seuchenbehörde CDC (Centre for Disease Control and Prevention) und dem russischen Staatlichen Forschungszentrum für Virologie und Biotechnologie VECTOR. Nach Angaben der Verantwortlichen sind die Virionen gut verwahrt in Hochsicherheitslaboren, deren Standorte nur wenigen bekannt und die militärisch streng geschützt sind. Eine Panne in einem derartigen Labor in Russland brachte erneut die Debatte über den Nutzen der weiteren Lagerung in Gang. Impfstoffe und ein Virostatikum sind vorhanden, die DNA ist längst entschlüsselt und kann jederzeit im Notfall nachgebaut werden. Trotzdem haben sich diejenigen Forscher durchgesetzt, die davon überzeugt sind, dass ein Vorhandensein des Erregers außerhalb der beiden offiziellen Lager nicht auszuschließen ist. Jederzeit könnten aus diesen »schwarzen« Beständen Biowaffen entstehen oder Virionen unbeabsichtigt entweichen. Erst im Jahr 2014 war in der Nähe von Washington bei Aufräumarbeiten in einem alten Labor noch ungesichertes infektiöses Material aus den 1950er-Jahren gefunden worden. Zudem wäre der Zugriff auf das Virus für die Entwicklung künftiger, besser verträglicher Impfstoffe sinnvoll.

Außerdem ist in den letzten Jahren die Zahl der Fälle von Affen- und Kuhpocken angestiegen. Noch können sie sich offenbar von Mensch zu Mensch nicht so leicht weiterverbreiten, doch es könnte nur eine Frage der Zeit sein, bis sie durch Mutationen dazu in der Lage sind.

Weniger für den eher unwahrscheinlichen Fall des Wiederauflebens des Erregers, eher aber für Laborunfälle oder Terroranschläge mit Biowaffen halten noch verschiedene Länder, darunter auch die USA und Deutschland, Impfstoffe vor. 

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