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Wieder leichter Anstieg

Bei HIV nicht zu sorglos werden

Die Entdeckung des Humanen Immundefizienz-Virus (HIV) im Jahr 1983 verlieh sowohl der Virenforschung als auch der Entwicklung antiviraler Arzneistoffe einen kräftigen Impuls. Die moderne Industriegesellschaft sah sich mit einer bis heute andauernden Pandemie konfrontiert, die nahezu den gesamten Globus erfasste und Millionen Opfer forderte. Heute ist das Virus kontrollierbar.
Edith Schettler
07.07.2021  08:30 Uhr

Erstmalig beschrieben die französischen Virologen Luc Montagnier (* 1932) und Françoise Barré-Sinoussi (* 1947) das Virus HIV-1 im renommierten Fachjournal »Science«. Sie hatten etwa 100 nm große, kugelrunde Viruspartikel isoliert, die von einer Lipiddoppelmembran umhüllt sind. Aus der Hülle ragen einige Spike-Proteine heraus, die die Bindung zu Rezeptoren der Wirtszelle herstellen. Im Inneren des Virions fällt ein konisches Kapsid auf, in dem zwei identische RNA-Stränge sowie die beiden Enzyme Reverse Transkriptase und Integrase liegen. Diese Enzyme katalysieren nach dem Eindringen des Virus in die Zielzelle die Umwandlung seiner RNA in DNA und deren Einbau in die Chromosomen des Wirtes. Für antiretrovirale Arzneistoffe sind genau diese Enzyme der Angriffspunkt.

Das HI-Virus gehört zur Gattung der Lentiviren in der entwicklungsgeschichtlich sehr alten Familie der Retroviren. Vertreter dieser Familie infizieren eine Vielzahl von Lebewesen, angefangen von Weichtieren bis hin zu den Primaten. Sie verursachen die verschiedensten Erkrankungen, zum Beispiel Tumoren und Neuropathien. HIV ist der Erreger des erworbenen Immunschwächesyndroms Aids, die Viren haben sich auf die T-Helferzellen des menschlichen Immunsystems spezialisiert.

Vom Urwald in die Welt

Der erste Infektion eines Menschen mit dem Virus fand vermutlich in den 1930er-Jahren in Kamerun statt. Bis dahin waren die Vorgänger der menschlichen HI-Viren seit zehntausenden Jahren in Populationen von Affen zu Hause. Das Immundefizienz-Virus der Schimpansen, Simian Immunodeficiency Virus (SIV), ist dem des Menschen HIV-2 genetisch sehr ähnlich, HIV-1 stimmt in vielen Sequenzen mit dem SIV von Gorillas überein. Daraus schlussfolgern Forscher, dass das SIV die Artenbarriere überwinden und einen Menschen zum Beispiel durch den Biss eines SIV-positiven Tieres oder beim Verzehr seines Fleisches infizieren konnte. Durch Mutationen passte sich das Virus seinem neuen Wirt im Laufe der Zeit immer besser an.

Sowohl SIV als auch HIV sind wenig kontagiös, weil ihre Übertragung ausschließlich durch den Kontakt mit Körperflüssigkeiten möglich ist. Deshalb haben vermutlich die ersten Patienten das Virus nur an einige wenige enge Kontaktpersonen weitergegeben. So blieben die Infektionen zunächst lokal begrenzt. Bis in die 1950er-Jahre verbreitete sich der Erreger in der Bevölkerung Afrikas und mutierte zu zehn verschiedenen Typen. Die meisten Patienten sind vermutlich in ihren Dörfern verstorben, ohne je einen Arzt konsultiert zu haben. Da die eigentliche Erkrankung einige Jahre nach der Infektion und zudem mit den unterschiedlichsten Symptomen auftritt, erkannten die Forscher den epidemischen Charakter erst Jahrzehnte später.

Der erste Fall einer HIV-Infektion in Europa wurde im Jahr 1988 bekannt. In den 1970er-Jahren waren ein norwegischer Seemann, seine Ehefrau und die jüngste Tochter an einer rätselhaften Krankheit verstorben. Ärzte hatten eine seltene Form von Leukämie vermutet und glücklicherweise Blutproben der drei Patienten konserviert. Nach der Entdeckung des HI-Virus testeten Wissenschaftler diese Proben und fanden heraus, dass sich der Familienvater wahrscheinlich auf einer seiner Reisen in Westafrika mit dem HI-Virus infiziert hatte. Die Krankheit gab er an seine Ehefrau weiter, diese infizierte ihrerseits das ungeborene Kind. Die beiden älteren Töchter blieben gesund.

Fake News

Erstmals löste das Virus eine Epidemie der Immunschwächekrankheit Aids in den USA vorwiegend unter homosexuellen Männern, aber auch unter Drogenabhängigen und Empfängern von Blutprodukten aus. Im Jahr 1981 diagnostizierten die Ärzte ungewohnt viele Erkrankungen an einer bis dahin sehr seltenen Form einer Lungenentzündung sowie am Kaposi-Sarkom, einer Krebserkrankung der Haut. In die Staaten war das Virus schon viel früher gekommen, neusten Forschungen zufolge zwischen 1969 und 1973. Es verbreitete sich zunächst in New York und erreichte im Jahr 1976 die Westküste. Die sexuell äußerst freizügigen 1970er-Jahre, die »Pille« war gerade erfunden, trugen ihren Teil zur Verbreitung bei. Im August 1982 bekam die bislang unbekannte Krankheit einen Namen: Acquired Immune Deficiency Syndrome, kurz Aids.

Übrigens gibt es zu ihrer Entstehung auch eine Verschwörungstheorie, deren Urheber der sowjetische Geheimdienst KGB war. US-amerikanische Virologen hätten im Auftrag des Pentagon aus zwei natürlichen Retroviren das HIV zur biologischen Kriegsführung gegen den Ostblock erschaffen, es an Gefangenen getestet und diese, als Symptome der Krankheit zunächst ausblieben, nach New York und San Francisco entlassen. Wieder zu Hause, seien diese erkrankt und hätten die erste Krankheitswelle in den USA in Gang gesetzt.

Als im Jahr 1982 der erste Patient in Deutschland bekannt wurde, führte das Robert-Koch-Institut (RKI) ein Melderegister für die Erkrankung ein. In diese Zeit, als die Ursache für die Krankheit noch unbekannt war, fällt auch die Gründung der Deutschen Aids-Hilfe und zahlreicher Selbsthilfeorganisationen. Nach Bekanntwerden des Erregers im Jahr 1983 starteten Kampagnen zur Prävention, beispielsweise »Safer Sex« oder »Gib Aids keine Chance«. Betroffene Prominente wie beispielsweise Freddie Mercury (1946-1991), der Sänger der Rockband Queen, oder der US-amerikanische Schauspieler Rock Hudson (1925-1985) sorgten selbst oder durch ihr Schicksal dafür, die neue Krankheit bekannt zu machen und die Prävention zu fördern. Für Blutkonserven gibt es seit der Entdeckung des Virus eine Testpflicht auf HIV.

Rettende Therapie

Der Pandemiecharakter der Immunschwächekrankheit ermöglichte, dass, ähnlich wie heute, die Forschungseinrichtungen staatliche Mittel in beträchtlicher Höhe erhielten, um Behandlungsmöglichkeiten oder eine Impfung zu finden. Die Forschung zu den antiviralen Arzneistoffen bekam einen kräftigen Aufschwung.

Als erstes Medikament kam Retrovir® (Zidovudin, ein Derivat des Nukleosids Thymidin) im Jahr 1987 auf den Markt. Es konnte das Virus zwar nicht inaktivieren, jedoch die Spanne zwischen der Infektion und dem Ausbruch der Erkrankung verlängern. Gewöhnlich vermehrt sich das Virus während der Inkubationszeit innerhalb der T-Zellen und zerstört dabei täglich eine große Zahl von ihnen. Dem Körper gelingt es über eine lange Zeit, durch eine gesteigerte Produktionsrate den Mangel auszugleichen, bis die Virenlast so groß wird, dass das Immunsystem kollabiert und die Krankheit zum Ausbruch kommt. Immer wieder ändert das Virus durch Mutationen seine antigenen Eigenschaften, was seine Erkennung zusätzlich erschwert. Meist beträgt die Spanne zwischen Ansteckung und Krankheitsbeginn ungefähr zehn Jahre. Der nukleosidische Wirkstoff Zidovudin hemmt das virale Enzym Reverse Transkriptase und verringert damit die Reproduktionsrate des Virus, indem es den Einbau seiner RNA in die menschliche DNA verhindert. Damit kann sich die Inkubationszeit auf mehrere Jahrzehnte verlängern, in denen die Betroffenen ein weitestgehend normales Leben führen können. Aufgrund der Variabilität des Virus entstehen jedoch auch Resistenzen gegen den Arzneistoff.

Im Laufe der Jahre kamen weitere Virostatika auf den Markt, sodass der Arzt die Therapie individuell gestalten kann. Seit dem Jahr 1996 hat sich die hochaktive antiretrovirale Therapie (HAART) etabliert, die zur Vermeidung von Resistenzen mehrere Virostatika kombiniert. Zum Einsatz kommen meist zwei nukleosidische Reverse-Transkriptase-Hemmer (neben Zidovudin beispielsweise Didanosin, Emtricitabin oder Lamivudin), ein nicht-nukleosidischer Reverse-Transkriptase-Hemmer (zum Beispiel Rilpivirin, Efavirenz oder Nevirapin) oder ein Proteaseinhibitor (Indinavir, Lopinavir) in Kombination mit Ritonavir. Ganz neu auf dem deutschen Markt ist der Integrasehemmer Cabotegravir (Vocabria®) zur Injektion im Abstand von zwei Monaten. Fixe Kombinationen der oralen Arzneistoffe erleichtern den Patienten die Compliance.

Blick in die Zukunft

Die Forschung nach Impfstoffen gestaltet sich schwierig, weil das Virus in der langen Inkubationsphase häufig mutiert und sich so dem Zugriff der Immunzellen immer wieder entziehen kann. Die Gentechnik forscht zurzeit an Antikörpern, die mehrere Varianten des HIV erkennen können. Mehrere Studien untersuchen die Möglichkeiten für genetische Veränderungen in der DNA von Immunzellen und die Herstellung künstlicher Rezeptoren zur Inaktivierung der Viren.

Schlussendlich gibt es unter den HI-Viren auch die »Guten«. Forscher haben sie so modifiziert, dass sie ihr genetisches Material nicht mehr in Wirtszellen einschleusen können. Stattdessen können sie als Genfähren Erbmaterial beispielsweise in chirurgisch schwer zugängliche Krebszellen rangieren. Dieses Prinzip könnte sogar in der Therapie der HIV-Infektion funktionieren. HI-Viren erhalten eine sogenannte Antisense-Gensequenz, die das Gen für ein bestimmtes Hüllprotein des Virus, VRX496, blockiert. Sie transportieren dieses in die T-Helferzellen und immunisieren sie gegen den Angriff des HI-Virus.

Die Krankheit Aids, die vor 40 Jahren für Panik sorgte, hat heute aufgrund der guten therapeutischen Möglichkeiten ihren Schrecken verloren. Die Erkrankungszahlen sind in den letzten Jahren stetig gefallen. Jedoch führt die daraus resultierende Sorglosigkeit dazu, dass die Prävention in Vergessenheit gerät. So verzeichnet UNAIDS, das gemeinsame Programm der Vereinten Nationen für HIV/Aids, wieder einen leichten Anstieg der Infektionszahlen. Im Jahr 2019 infizierten sich in Deutschland 2.600, weltweit 1,7 Millionen Menschen neu. Zurzeit leben rund 38 Millionen mit dem HI-Virus, von denen 26 Millionen Zugang zu antiretroviralen Medikamenten haben.

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