Das Alphabet der Varianten |
Das griechische Alphabet ist den meisten Menschen durch die Corona-Pandemie vermehrt ins Bewusstsein gerückt. / Foto: Adobe Stock/asafeliason
Weltweit untersuchen Wissenschaftler in medizinischen Laboren, wie sich SARS-CoV-2 bei seiner Ausbreitung verändert. »Dazu wird das Erbgut des Virus aus verschiedenen Patienten entschlüsselt und in Datenbanken gespeichert«, erklärte Professor Dr. med. Roman Wölfel, Oberstarzt und Leiter des Instituts für Mikrobiologie der Bundeswehr in München, gegenüber PTA-Forum. Zu diesen gigantischen Datenbanken zählt die GISAID (Global Initiative on Sharing All Influenza Data), eine in München ansässige Plattform der Europäischen Union. Die Informationen von Datenbanken wie GISAID fließen wiederum in die Datenbank PANGO Lineages ein, die von drei britischen und einer australischen Universität gepflegt wird. Wissenschaftler dokumentieren dort das Entstehen, die Verbreitung und die Frequenz einzelner Linien in jedem Land tabellarisch und grafisch.
»Durch den Vergleich der gesammelten Daten lässt sich recht schnell erkennen, wo neue Varianten entstehen und sich ausbreiten«, erklärt Wölfel. Allein bis Mai 2021 dokumentierten Forscher mehr als 12.000 Veränderungen im Genom von SARS-CoV-2. »Die Erbinformation des Virus kann auch darauf analysiert werden, welche Veränderungen genau einer neuen Variante Vorteile verschaffen«, sagt der Experte. Die meisten Mutationen verschaffen diese Vorteile nicht. Nur wenige wirken sich auf Funktionen wie die Infektiosität oder Gefährlichkeit des Virus aus. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn das Gen für das S-Protein (Spike-Protein) betroffen ist, das das Virus benötigt, um in menschliche Zellen einzudringen. Gegen dieses Protein richtet sich der Impfschutz und auch das Immunsystem von Genesenen hat gelernt, genau diese Virusregion zu bekämpfen. Mutationen des Virus, die das S-Protein betreffen, könnten daher für Menschen gefährlich werden, die bereits eine Infektion mit dem Wildtyp von SARS-CoV-2 hinter sich haben oder gegen ihn geimpft sind.
In Deutschland ist für die molekulare Surveillance das Robert-Koch-Institut (RKI) verantwortlich. Seit der 29. Kalenderwoche 2021 (22.7.2021) veröffentlicht das Institut jeden Donnerstag in seinem Wochenbericht zu Covid-19 auch Daten zum Vorkommen von sogenannten »Variants of Concern« (VOC, besorgniserregende Varianten) und »Variants of Interest« (VOI, unter Beobachtung stehende Varianten) in Deutschland.
»Als VOC ordnen wir neue Virusvarianten ein, für die es bereits konkrete Hinweise auf eine erhöhte Übertragbarkeit des Virus unter Menschen, auf schwerere Erkrankungsverläufe (zum Beispiel vermehrte Krankenhausaufenthalte oder Todesfälle) oder eine verminderte Wirksamkeit von Medikamenten oder Impfstoffen gibt«, berichtete Wölfel. Wegen dieser Veränderungen sind die VOCs global von Bedeutung für die öffentliche Gesundheit.
»Als VOI wird wiederum eine Virusvariante bezeichnet, wenn sie neue besondere Eigenschaften aufweist, die sie von anderen bekannten Varianten erheblich unterscheidet«, erzählt der Mediziner. »Das können Veränderungen sein, die es dem Virus erleichtern, in menschliche Zellen einzudringen.« Ein weiteres Beispiel für solch eine »interessante«, weil möglicherweise gefährliche Eigenschaft sei es, wenn ein mutiertes Virus weniger empfindlich gegen die Wirkung von Antikörpern ist, die nach einer früheren Infektion oder Impfung gebildet wurden. Damit eine Variante als VOI klassifiziert wird, muss sie zudem in mehreren Ländern mit steigenden Fallzahlen oder anderen offensichtlichen epidemiologischen Auswirkungen assoziiert sein. Bei den Definitionen spricht die Weltgesundheitsorganisation (WHO) von »Arbeitsdefinitionen« (working definitions), da diese im Laufe der Zeit möglicherweise angepasst werden müssen.
Darüber hinaus beobachtet das RKI für Deutschland noch sechs weitere Varianten, die noch keine Namen bekommen und von der WHO auch noch nicht als VOI eingestuft worden sind. Diese Varianten haben noch eine geringe globale Verbreitung, wurden aber bereits hierzulande detektiert und weisen Mutationen auf, die mit einer erhöhten Übertragbarkeit und/oder veränderten Immunantwort in Zusammenhang gebracht werden. Derartige Varianten werden als VOI-D bezeichnet.
Einstufung | WHO-Nomenklatur | Pangolin-Nomenklatur | Erstmaliger Nachweis | Aminosäure-Austausche im S- Protein |
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VOC | B.1.1.7 | Alpha | GB, Sept. 2020 | del69/70, del144, N501Y, A570D, D614G, P681H, T716I, S982A, D1118H |
VOC | B.1.351 | Beta | Südafrika, Mai 2020 | L18F, D80A, D215G, R246I, K417N, E484K, N501Y, D614G, A701V |
VOC | P.1 alias B.1.1.28.1 | Gamma | Brasilien, Nov. 2020 | L18F, T20N, P26S, D138Y, R190S, K417T, E484K, N501Y, D614G, H655Y, T1027I, V1176F |
VOC | B.1.617.2 | Delta | Indien, Okt. 2020 | T19R, del157-158, L452R, T478K, D614G, P681R, D950N |
VOI | B.1.427/B.1.429 | Epsilon | USA, März 2020 | S13I, W152C, L452R, D614G |
VOI | P.2 | Zeta | Brasilien, Apr. 2020 | S477N, E484K, D614G, V1176F |
VOI | B.1.525 | Eta | Angola, Dez. 2020 | Q52R, A67V, del69/70, del144/145, E484K, D614G, Q677H, F888L |
VOI | P.3 | Theta | Philippinen, Jan. 2021 | del141/143, E484K, N501Y, D614G, P681H, E1092K, H1101Y, V1176F |
VOI | B.1.526 | Iota | USA, Nov. 2020 | L5F, T95I, D253G, E484K, D614G, A701V |
VOI | B.1.617.1 | Kappa | Indien, Okt. 2020 | G142D, E154K, L452R, E484Q, D614G, P681R, Q1071H |
VOI-D | C.37 | Lambda | Peru, Aug. 2020 | D614G, T859N, F490S, L452Q, T76I, G75V, del247/253 |
VOI-D | A.23.1 | Nicht vergeben | Uganda, Okt. 2020 | F157L, V367F, Q613H, P681R |
VOI-D | A.27 | Nicht vergeben | Frankreich, Dez. 2020 | T95I, del144/145, E484K, D614G, P681H, D796H |
VOI-D | B.1.1.318 | Nicht vergeben | Großbritannien, Feb. 2021 | T95I, del144/145, E484K, D614G, P681H, D796H |
VOI-D | B.1.620 | Nicht vergeben | Nov. 2020 | P26S, del69/70, V126A, del144/145, S477N, E484K, D614G, P681H, T1027, D1118H |
VOI-D | B.1.617.3 | Nicht vergeben | Indien, Feb. 2021 | T19R, L452R, E484Q, D614G, P681R |
VOI-D | C.36.3 | Nicht vergeben | Feb 2021 | Q677H, A899S, D614G, R346S, L452R, W152R, S12F, del69/70 |
Für Genetiker ist bei den Varianten wichtig, an welcher Stelle in der Sequenz etwas gegenüber der ursprünglichen Fassung mutiert ist. Das geben sie mit einem Code aus Buchstabe-Zahl-Buchstabe, etwa N501Y, an. Das Beispiel N501Y steht für eine Mutation, die für Veränderungen in der Rezeptorbindungsstelle des S-Proteins sorgt und das Virus für Menschen infektiöser macht. Andere Mutationen wie E484K oder E484Q verringern hingegen die Wirksamkeit neutralisierender Antikörper. Sie wurden bei den bisher zugelassenen Impfstoffen noch nicht berücksichtigt, was die Wirksamkeit der Vakzine reduzieren kann.
Um die neuen Genome systematisch zu erfassen, entwickelten Wissenschaftler einen Algorithmus auf Basis von maschinellem Lernen, der unter der Bezeichnung PANGO bekannt ist. Nach der PANGO-Nomenklatur werden Virusvarianten anhand ihrer RNA-Sequenzen in Abstimmungslinien, die mit Buchstaben wie A, B oder C bezeichnet werden, eingeteilt. Die Namen der Varianten beginnen mit dem entsprechenden Buchstaben, worauf Zahlen folgen, etwa B.1.1.7. Die Zahlen geben die letzten Verzweigungspunkte in der Abstammungslinie der Virusvariante an, soweit sie im PANGO-System erfasst sind.
Anstelle der aus Buchstaben und Zahlen bestehenden wissenschaftlichen Bezeichnungen und der möglicherweise als diskriminierend empfundenen Benennungen nach der Region, in der sie entdeckt wurden, schlug die WHO am 31. Mai 2021 eine Nomenklatur für die VOCs und VOIs vor, die sich am griechischen Alphabet orientiert. Die aktuell als VOC definierten Varianten heißen dementsprechend Alpha, Beta, Gamma und Delta.
In Deutschland ist derzeit die Variante Delta vorherrschend. Es folgen Alpha, dann Gamma und Beta, wobei letztere hierzulande aber vergleichsweise selten vorkommen.
WHO-Nomen-klatur | Pangolin-Nomenklatur | Erstmaliger Nachweis | Infektiosität | Auswirkung auf Impfschutz/Schutz Genesener |
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Alpha | B.1.1.7 | GB, Sept. 2020 | infektiöser als der Wildtyp | gute Wirksamkeit der bisherigen Impfstoffe beziehungsweise vorhandener neutralisierender Antikörper |
Beta | B.1.351 | Südafrika, Mai 2020 | vermutlich infektiöser als der Wildtyp | reduzierte Wirksamkeit neutralisierender Antikörper |
Gamma | P.1 alias B.1.1.28.1 | Brasilien, Nov. 2020 | vermutlich infektiöser als der Wildtyp | möglicherweise reduzierte Wirksamkeit neutralisierender Antikörper |
Delta | B.1.617.2 | Indien, Okt. 2020 | infektiöser als der Wildtyp | reduzierte Wirksamkeit neutralisierender Antikörper |
Die Variante Alpha (B.1.1.7) trat als erste VOC im September 2020 in Großbritannien in Erscheinung. Ihr Selektionsvorteil besteht darin, dass sie leichter von Mensch zu Mensch übertragbar ist als die zuvor zirkulierenden Varianten und eine höhere Reproduktionszahl hat. Weiterhin gibt es Hinweise, dass eine Ansteckung in allen Altersgruppen zu einer erhöhten Fallsterblichkeit führt. Den Impfschutz scheint Alpha jedoch nicht zu beeinträchtigen. Eine Ausnahme stellt hier jedoch die Sonderform B.1.1.7 mit E484K dar. Diese Variante hat im S-Protein eine zusätzliche Mutation (E484K), die sie unempfindlicher gegen bereits gebildete neutralisierende Antikörper macht. Vermutlich ist die Wirksamkeit der aktuell vorhandenen Impfstoffe gegen diese Sonderform verringert. Mit derselben Veränderung sind die Varianten B.1.351 (Beta) und P.1 (Gamma) ausgestattet. B.1.1.7 mit E484K kommt bislang jedoch nur selten in Deutschland vor.
In Südafrika im Mai 2020 wurde die Betavariante (B.1.351) erstmals nachgewiesen. Sie kann der Immunantwort von Menschen, die mit dem Wildtyp infiziert waren oder einen auf ihm beruhenden Impfstoff erhalten haben, teilweise entkommen. Ob sich die Variante auch schneller überträgt, ist noch unklar.
Die Gamma-Variante (P.1) stammt von der Linie B.1.1.28 ab und wurde im November 2020 erstmals im brasilianischen Staat Amazonas nachgewiesen. Sie ähnelt in ihren Veränderungen der südafrikanischen Variante und weist mehrere Veränderungen im Spikeprotein auf, einschließlich der drei, die als besonders besorgniserregend eingestuft wurden: N501Y, E484K und K417T. Es gibt Hinweise aus experimentellen Studien, dass die Wirksamkeit neutralisierender Antikörper gegenüber Gamma bei Genesenen beziehungsweise Geimpften reduziert ist. Forscher nehmen auch eine erhöhte Übertragbarkeit an.
Die Deltavariante (B.1.617.2) wiesen Wissenschaftler erstmals im Oktober 2020 in Indien nach. Ihre Mutationen reduzieren die Immunantwort und könnten die Übertragbarkeit des Virus erhöhen. Eine vollständige Impfung stellt dennoch einen hohen Schutz vor Erkrankung und schweren Verläufe mit dieser derzeit vorherrschenden Variante sicher.
Mutationen begünstigen, dass sich Menschen auch nach einer Impfung oder einer überstandenen Covid-19-Erkrankung erneut infizieren oder sogar erkranken. »Entscheidend ist aber, dass Geimpfte und Genesene immer ein deutlich geringeres Risiko haben, schwer zu erkranken oder gar zu sterben«, beruhigt Wölfel. »Tatsächlich müssen sich vor allem diejenigen Sorgen machen, die bislang noch nicht geimpft sind.« In Menschen, die noch keinen Kontakt mit Virus-Antigenen hatten, kann sich das Virus zudem ungehindert vermehren. »Es hat dabei auch eine optimale Umgebung, um immer neue Varianten zu bilden«, bestätigt der Experte. Das könnte die Pandemie immer weiter verlängern. Die AHA-L-Regeln bleiben daher wichtig, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. »Entscheidend ist aber, möglichst schnell möglichst viele Menschen auf der ganzen Welt gegen SARS-CoV-2 zu immunisieren«, sagt der Experte und bekräftigt: »Die Impfung ist daher nicht nur das beste Mittel gegen die Ausbreitung des Virus, sondern auch gegen die Entwicklung immer weiterer gefährlicherer Varianten.«
Coronaviren lösten bereits 2002 eine Pandemie aus: SARS. Ende 2019 ist in der ostchinesischen Millionenstadt Wuhan eine weitere Variante aufgetreten: SARS-CoV-2, der Auslöser der neuen Lungenerkrankung Covid-19. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronaviren.