Das digitale Leben unserer Kinder |
Emojis gehören zum digitalen Alltag. So wie vieles mehr, das die Betreiber verschiedener Plattformen anbieten. Ihr Bestreben: Der Nutzer soll sich möglichst lange und immer wieder auf der Seite aufhalten. Dieses Ziel erreichen Anbieter auch schon bei Kleinstkindern. / Foto: Adobe Stock/Mego-studio
Smartphones sind immer häufiger in Kinderzimmern zu finden, so das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage des Digitalverbands Bitkom unter 900 Kindern und Jugendlichen zwischen sechs und 18 Jahren. Der Anteil aller 6- bis 7-Jährigen Nutzer stieg von 20 Prozent (2014) auf 54 Prozent (2019). Ähnliche Trends fanden Marktforscher bei 10- bis 11-Jährigen (57 Prozent versus 82 Prozent) oder bei 14- bis 15-Jährigen (84 Prozent versus 98 Prozent).
Andere Geräte stehen ähnlich hoch im Kurs. Beispielsweise haben 51 Prozent aller 12- bis 13-Jährigen einen Computer, 47 Prozent einen Fernseher und 43 Prozent ein Tablet. Jugendliche hören oft Musik, streamen Videos, chatten, nutzen soziale Netzwerke oder surfen im Web.
Mit zunehmendem Alter verbringen sie mehr Zeit online, berichtet das Leibniz-Institut für Medienforschung – Hans-Bredow-Institut auf der Basis von rund 1.000 Interviews. Zwischen neun und elf Jahren kommen Kinder durchschnittlich auf 1,4 Stunden pro Tag. Bei 12- bis 14-Jährige sind es 2,4 Stunden, und 15- bis 17-Jährige tummeln sich täglich sogar 3,4 Stunden an ihren elektronischen Gefährten. Pädiater warnen laut der Studie »Smart Aufwachsen 2019« vor möglichen Folgen des Medienkonsums.
Die pronova BKK hatte 100 niedergelassene Pädiater befragt. 79 Prozent gaben an, dass sie in den vergangenen fünf Jahren verstärkt soziale Auffälligkeiten bei kleinen Patienten festgestellt hätten. 75 Prozent berichten von mehr Übergewicht, 66 Prozent diagnostizieren häufiger motorische Defizite und 59 Prozent Lernentwicklungsstörungen. Alles in allem führen 90 Prozent der interviewten Kinderärzte ihre Beobachtungen auf die frühe Nutzung von Computern, Smartphones und Spielekonsolen zurück. Gleichzeitig geben sie an, man könne derzeit langfristige Folgen nicht abschätzen. Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, fordert deshalb: »Kein Handy vor elf Jahren!«
Dass solche Bedenken vieler Kinderärzte durchaus berechtigt sind, zeigt eine Untersuchung, die in der Fachzeitschrift JAMA Pediatrics veröffentlicht worden ist. Machen Empfehlungen der American Academy of Pediatrics, Kinder zwischen zwei und fünf Jahren sollten Bildschirmgeräte aller Art zusammen maximal eine Stunde pro Tag nutzen, wirklich Sinn? Bei dieser Altersgruppe rät die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zum gänzlichen Verzicht.
Beschäftigen sich Eltern häufig in Anwesenheit ihrer Kinder mit digitalen Medien, allen voran dem Smartphone, sind sie ihren Kindern gegenüber weniger empathisch. / Foto: ©yurolaitsalbert - stock.adobe.com
Um mehr Klarheit zu schaffen, nahmen Forscher am Cincinnati Children’s Hospital Medical Center 47 gesunde Kinder, 27 Mädchen und 20 Jungen, zwischen drei und fünf Jahren in ihre Studie auf. Die Probanden stammten zu 78 Prozent aus bildungsnahen Familien. Alle Teilnehmer absolvierten kognitive Standardtests, gefolgt von einer speziellen Magnetresonanztomografie (MRT). Bei der sogenannten Diffusions-Tensor-Bildgebung sehen Neurologen, wie Bündel von Nervenfasern verlaufen. Außerdem mussten Eltern Fragen zum Medienkonsum ihres Nachwuchses mit dem »ScreenQ-Score«, einem speziellen Fragebogen, beantworten.
Tatsächlich stand mehr Zeit vor dem Bildschirm oder Smartphone mit einer verminderten Myelinisierung von Neuronen in Verbindung. Die Myelinisierung gehört zur Entwicklung neuronaler Strukturen. Dabei werden Fortsätze von Nervenzellen elektrisch isoliert, damit eine schnellere Erregungsleitung überhaupt möglich wird. Betroffen waren Nervenverbindungen zu den sensorischen und motorischen Sprachzentren. Die Autoren sprechen selbst von »ersten Hinweisen« auf Entwicklungsstörungen. Welche Relevanz ihre Beobachtung tatsächlich hat, können sie nicht einschätzen. Dazu sind weitere Untersuchungen erforderlich. Jedenfalls warnen die Forscher davor, Empfehlungen der American Academy of Pediatrics kritiklos zu übernehmen.
Während neurologische Folgen moderner Technologien noch genauer untersucht werden müssen, gibt es an weiteren Gefahren keine Zweifel. Kinder und Jugendliche hören Musik, chatten oder machen Fotos. Dadurch werden sie abgelenkt und achten nicht auf den Straßenverkehr. Böse Zungen haben den Begriff »Smombies« (aus »Smartphone« und »Zombies«) geprägt. Solche Verkehrsteilnehmer geraten schnell in Gefahr, wie eine Untersuchung der Klinik und Poliklinik für Kinderchirurgie am Universitätsklinikum Leipzig belegt.
Im Gegensatz zu einigen anderen Ländern greifen in Deutschland noch keinerlei Maßnahmen, um durch das Smartphone abgelenkte Fußgänger vor den Gefahren ihres eigenen Verhaltens zu schützen. / Foto: Adobe Stock/Peter Atkins
In ihrer Studie untersuchten Kinderchirurgen Fallberichte über zehn Unfälle zwischen 2008 bis 2018, bei denen das Smartphone definitiv eine Rolle gespielt hat. Beispielsweise erfasste ein langsam fahrendes Auto eine 12-Jährige, die beim Überqueren einer Straße nur ihr Handy im Blick hatte. Sie erlitt eine Beckenringfraktur. Und einem 16-jährigen Mädchen rollte ein Auto über die Hand, als sie ihr Smartphone von der Straße aufheben wollte. Die Schülerin wurde leicht verletzt. Eine weitere junge Frau, ebenfalls 16 Jahre alt, fiel beim Selfie-Shooting durch ein Glasdach. Sie erlitt ein schweres Wirbelsäulentrauma. Generell scheinen Mädchen der kleinen Studie zufolge stärker als Jungen gefährdet zu sein. Wie viele Unfälle tatsächlich auf die moderne Technik zurückzuführen sind, bleibt ungewiss, denn viele Patienten nennen den wahren Grund ihres Unfalls nicht.
Klinikdirektor Professor Dr. Martin Lacher hat einige Ideen parat. »Im US-Bundesstaat Hawaii ist es illegal, eine Straße zu überqueren, während man auf das Smartphone schaut. Wäre das auch für unser Land gut?«, so der Experte in einer Pressemeldung. Alternativ bleiben noch spezielle Fußwege für unaufmerksame Smartphone-Nutzer: eine Lösung, die in China, in den USA, in Belgien und in Litauen teilweise schon umgesetzt worden ist.
Smartphones und Tablets führen nicht nur zu Unfällen. Sie schaden auch dem Visus. Bis zum Alter von etwa acht Jahren sind die meisten Kinder eher weitsichtig. Doch die Sehgewohnheiten ändern sich. Smartphones, Tablets und Computer fördern die Naharbeit, also das Sehen im Bereich von 30 Zentimetern oder weniger. Wenn sich die Augen ständig auf nahe Objekte fokussieren, führt dies in Randbereichen der Netzhaut zu einem unscharfen Bild. Laut der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft werden dadurch möglicherweise Faktoren aktiviert, welche das Längenwachstum des Auges anregen – und letztlich zu Kurzsichtigkeit führen. Kinder benötigen nicht nur früher eine Brille. Auch das Risiko von Folgeerkrankungen im Alter, etwa Netzhautablösungen, Schädigungen der Makula und ein steigender Augeninnendruck, steigt an.
»Aus augenärztlicher Sicht sind PC, Smartphone oder Tablet für Kinder bis zu einem Alter von drei Jahren gänzlich ungeeignet«, sagt Professor Dr. Bettina Wabbels von der Universitäts-Augenklinik Bonn bei einer Pressekonferenz. Für Vier- bis Sechsjährige empfiehlt sie maximal 30 Minuten. »Im Grundschulalter wäre eine Medienzeit von maximal einer Stunde täglich aus augenärztlicher Sicht vertretbar«, ergänzt Wabbels. Und ab zehn Jahren seien es bis zu zwei Stunden pro Tag. Allen Eltern rät die Expertin, ihre Kinder möglichst zwei Stunden am Tag im Freien spielen zu lassen – denn dann sinkt das Risiko für eine Kurzsichtigkeit. Die Augen profitieren davon, sich auf weiter entfernte Ziele zu fokussieren.
Damit nicht genug. Lange Zeiten vor dem Handy, dem Computer beziehungsweise der Spielekonsole stumpfen ab. Chats, neue Posts in sozialen Netzwerken oder lange Videos verhindern, dass User im wahrsten Sinne des Wortes mal abschalten. Sie vergessen, zu essen, zu trinken oder Pausen einzulegen. Das Bewusstsein für die körperliche Verfassung nimmt ab. Und wer seine Geräte noch am Nachttisch stehen hat, riskiert Schwierigkeiten beim Einschlafen: Licht mit einem hohen Blauanteil, wie es viele Bildschirme aussenden, können die Ausschüttung von Melatonin verringern und die Bildung von Kortisol fördern. Das gilt für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Eltern sollten mit gutem Vorbild vorangehen.
Quelle: BZgA - Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Landeszentrale für Medien und Kommunikation Rheinland-Pfalz