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Mikrobiom

Das interaktive Ökosystem im Menschen

Über eines sind sich Mikrobiomforscher einig: Das Mikrobiom und der menschliche Organismus beeinflussen sich gegenseitig enorm. Wie genau das aber funktioniert, auch im Hinblick auf Erkrankungen, ist oft noch unklar.
Judith Schmitz
17.03.2022  12:00 Uhr

Professor Dr. Dirk Haller von der Technischen Universität München (TUM) forscht auf dem Gebiet der Ernährungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Mikrobiom. Er vergleicht das Mikrobiom und dessen Erforschung mit einem dunklen Raum, den die Forscher mit einer Taschenlampe betreten. Mal scheinen sie hierhin, mal dorthin, je nachdem, welche Methode das jeweilige Forschungsteam anwendet. Selbst bei ein und derselben Probe wenden Forscher unterschiedliche Methoden an und erhalten andere Ergebnisse zur gleichen Fragestellung.

Vermessen und beschrieben wird das menschliche Mikrobiom seit gut 15 Jahren vor allem auf Populationsebene hauptsächlich mit sequenzbasierten Analyseverfahren. Diese beschreibende Phase sei nahezu abgeschlossen, sagt Haller im Gespräch mit PTA-Forum. Nun brauche es funktionelle Studien. Und da werde es schon auf Populationsebene komplex, geschweige denn auf individueller.

Die Forscher interessiert, wie das Mikrobiom mit dem einzelnen Menschen interagiert, welche Rolle dabei Umwelteinflüsse spielen und welche Funktionen die einzelnen Bestandteile eines Mikrobioms im gesunden und im kranken Menschen haben. Eine wichtige Frage ist, ob die Änderung der Zusammensetzung des Mikrobioms bei einer bestimmten Krankheit einfach nur ein sogenannter Bystandereffekt ohne Funktionalität ist oder aber deren Ursache beziehungsweise Folge. Könnte sich das Mikrobiom dann gezielt ändern lassen und man die Mikrobiota therapeutisch nutzen?

Mikrobiom oder Mikrobiota?

Wissenschaftler bezeichnen als Mikrobiota die Gesamtheit aller Mikroorganismen, die alle Körperoberflächen des Menschen besiedeln: den Darm, andere innere Organe und Schleimhäute, etwa die Nasenhöhle, sowie die Haut. Zur Mikrobiota zählen neben Bakterien (wenig erforschte) Pilze, Viren, Archaeen und Protozoen. Als Mikrobiom definieren sie ein mikrobielles Ökosystem: eine mikrobielle Gemeinschaft, die einen definierten Lebensraum mit spezifischen physikalischen und chemischen Eigenschaften bewohnt. Zum Mikrobiom gehört neben der Mikrobiota das Wirkungsfeld der Mikroorganismen samt ihres Genoms, ihrer Metabolite und ihrer Umweltbedingungen.

Ein menschliches Mikrobiom besteht durchschnittlich aus 300 Bakterienarten und 30 Billionen Mikroorganismen mit zehn Millionen Genen. Die dominierenden Stämme mit einem Anteil von 90 Prozent des Gesamtmikrobioms sind Untersuchungen zufolge Bacteroidetes und Firmicutes, gefolgt von Proteobacteria, Fusobacteria, Tenericutes, Actinobacteria und Verrucomicrobia.

Dieses dynamische und interaktive Mikro-Ökosystem wird von inneren und äußeren Faktoren beeinflusst. Wegen dieser Dynamik variiert die Zusammensetzung der Mikrobiota sowohl quantitativ als auch qualitativ stark zwischen Personen und auch bei einer Person. Dabei scheinen über die Zeit intraindividuelle Unterschiede geringer zu sein als die Unterschiede zwischen Personen. Wissenschaftler tun sich daher schwer mit einer Definition des »gesunden Mikrobioms« als Einheitsgröße für alle, heißt es in DGE Wissen, dem Wissenschaftsmagazin der Deutschen Gesellschaft für Ernährung.

Jeder Mensch hat also ein individuelles Mikrobiom, das sich im Laufe des Lebens ändert. Das Mikrobiom wird vor allen in jungen Lebensjahren von elterlichen Faktoren wie Genetik, Ernährung, mentaler und körperlicher Gesundheit, Geburtsmethode (bei der vaginalen Geburt überträgt sich die vaginale und fäkale Mikrobiota der Mutter auf das Baby, während dieses den Geburtskanal passiert), Fütterungsart, Etablierung von Ernährungsgewohnheiten sowie von Umweltfaktoren wie Infektionen, Antibiotika und Umweltverschmutzung beeinflusst. Dies ist wohl prägend für die gesundheitliche Entwicklung des Menschen im späteren Leben.

Mit steigendem Alter breitet sich die Mikrobiota weiter aus. Je nach Lebensführung kann sich die Mikrobiota im Laufe des Lebens ändern, sie bleibt im Erwachsenenalter jedoch relativ stabil. Im höheren Alter geht die Diversität der Mikrobiota dann zurück.

Leben im Darm

95 Prozent der Mikroorganismen befinden sich im Gastrointestinaltrakt (1500 Spezies, aufgeteilt in mehr als 50 Stämme) und dort vor allem im unteren Darmabschnitt. Das Darmmikrobiom scheint für viele Prozesse im Menschen entscheidend zu sein. Bekannt ist vor allem seine Rolle bei der Verdauung und der Ausbildung und der Funktion des Immunsystems, aber auch unter anderem an der Entwicklung des Nervensystems, der Produktion von Vitaminen (K und B) und anderen Stoffwechselprodukten, dem Erhalt der Epithelschicht des Darms und Regulierung der Integrität der Darmbarriere und dem Metabolismus etwa von Pharmaka ist es beteiligt.

Eine hohe Diversität der Mikrobiota soll vor Krankheiten schützen. Forscher diskutieren einen Zusammenhang zwischen Mikrobiom und Allergien, Adipositas, Diabetes mellitus, Depressionen und dem Reizdarmsyndrom. Bisher lässt sich zumindest das klinische Krankheitsbild des Reizdarmsyndroms durch eine gezielte Beeinflussung der Mikrobiota nachweislich verbessern. Als Therapie der rezidivierenden Infektion mit Clostridioides difficile ist die Transplantation fäkaler Mikrobiota zugelassen.

Wesentlich für die Einflüsse des Mikrobioms scheinen die bidirektionalen Achsen im Körper zu sein: Darm und Gehirn kommunizieren über die sogenannte Darm-Hirn-Achse miteinander. Dazu gehören unter anderem Nervenzellen in der Darmwand, Hormone, Botenstoffe von Immunzellen und die intestinale Mikrobiota. 10 Prozent der Informationen gelangen vom Gehirn zum Darm, 90 Prozent vom Darm zum Gehirn.

Das Mikrobiom produziert die kurzkettigen Fettsäuren Butyrat, Propionat und Acetat. Sie können die Blut-Hirn-Schranke überwinden. Im Zentralnervensystem dienen sie Neuronen als Energiesubstrate und beeinflussen die Bildung der Neurotransmitter Dopamin, Serotonin und Neuropeptid YY. Die Achse wird daher inzwischen wohl auch als Teil der Reiz- und Stressverarbeitung gesehen. Die Programmierung der Darm-Hirn-Achse findet wohl in den ersten drei Lebensjahren statt. Danach kann der Lebensstil modifizierend auf sie wirken. Ein pränataler Einfluss wird diskutiert. Haller hält die Aussagen dazu jedoch für unsolide.

Des Weiteren gibt es die Darm-Leber-Achse: Die Leber ist direkt über die Pfortader und die Gallenwege mit dem Darm und den dazu gehörigen Bakterien verbunden. Normalerweise reguliert die Darmbarriere den Übertritt von bakteriellen Produkten und Zytokinen, die über die Pfortader in die Leber kommen. Gibt es Störungen entlang dieser Achse – etwa durch eine Dysbalance des Darm-Mikrobioms oder eine erhöhte intestinale Durchlässigkeit – gelangen bakterielle Bestandteile in die Zirkulation. In der Leber können sie Entzündungsreaktionen verursachen.

Einfluss der Ernährung

Lässt sich das Darm-Mikrobiom gezielt über die Ernährung steuern? Haller sagt dazu: »Die Ernährung beeinflusst die Zusammensetzung der Bakterien, wobei langfristige Ernährungsmuster einen Fingerabdruck hinterlassen. Und das macht Sinn, weil sich die Bakterien adaptieren können.« Allerdings warnt er vor Aussagen, man könne mit der Ernährung das Mikrobiom in eine klar definierte Richtung beeinflussen. »Das wird der Komplexizität nicht gerecht, denn jeder Mensch hat eine individuelle Mikrobiota.«

Eine andere wesentliche Beeinflussung der Mikrobiota sind Antibiotika: Sie zerstören sowohl die pathogenen als auch die nützlichen Bakterien und verursachen damit eine Dysbiosis, also ein verändertes oder gestörtes Darmmikrobiom. Konkret wird der kompetitive Ausgrenzungsmechanismus gestört, über den die Mikrobiota Pathogene inhibieren, indem sie die pathogenen Bakterien normalerweise etwa in einem natürlichen Gleichgewicht halten, sodass sie sich nicht stark vermehren können. Der spezifische Effekt der Antibiotika-Gabe auf die Darmmikrobiota hängt aber von der Art des Antibiotikums und Dauer der Gabe ab.

Auch andere Arzneistoffe können das Mikrobiom beeinflussen, gemäß einer Studie aus 2018 von Forschern des European Molecular Biology Laboratory (EMBL) in Heidelberg sogar jeder vierte Arzneistoff. Viele Medikamente wirkten sich negativ auf die Zusammensetzung und den Zustand der Darmbakterien aus, aber einige wohl auch positiv.

Auf der anderen Seite modulieren die Darmbakterien die Verfügbarkeit und Wirksamkeit von Medikamenten. Ein Hauptmechanismus ist dabei die Biotransformation, also die chemische Umwandlung der Medikamente: Die Mikrobiota ist metabolisch sehr aktiv. Eingenommene Medikamente, sofern sie den Dickdarm erreichen, werden dort verstoffwechselt und dabei entweder aktiviert oder in ihrer Wirkung abgeschwächt.

Einen zweiten Mechanismus hat die Heidelberger Forschergruppe im Herbst letzten Jahres veröffentlicht: die Bioakkumulation durch Darmbakterien. Dabei speichern diese das Medikament in ihrem Zellinneren, ohne es chemisch zu verändern und meist auch ohne eigene Wachstumseinschränkungen. Dieser Mechanismus kann sowohl die Arzneimittelverfügbarkeit als auch den Bakterienmetabolismus verändern – möglicherweise mit Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Mikrobiota, die Pharmakokinetik, auf Nebenwirkungen und Arzneimittelreaktionen – und zwar individuell unterschiedlich.

Haller geht davon aus, dass es in naher Zukunft zumindest für den Aspekt der Biotransformation Anwendungen geben wird, um Arzneimittel dahingehend zu prüfen, ob und wie sie durch die individuelle Mikrobiota des Patienten verstoffwechselt werden. Mit diesem Wissen ließe sich dann eine optimale Dosierung des Medikamentes für den Patienten finden.

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