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Psyche und Immunsystem

Dauerstress schwächt die Abwehrkräfte

Leistungsdruck, Beziehungsprobleme, Zukunftsängste – anhaltender Stress beeinträchtigt nachweislich das Immunsystem. Wer das Leben genießt, kann Infekte dagegen besser abwehren.
Clara Wildenrath
10.12.2021  15:30 Uhr

Descartes hat sich geirrt. Der französische Philosoph begründete im 17. Jahrhundert die Theorie, dass Körper und Seele zwei getrennte Einheiten darstellen. Das Bild prägt die Medizin bis heute: Ärzte unterscheiden zwischen physischen und psychischen Beschwerden; wechselseitige Einflüsse werden als psychosomatisch bezeichnet. Und doch weiß die moderne Wissenschaft inzwischen, dass diese scharfe Trennung nicht der Realität entspricht.

Noch zu Beginn der 1980er-Jahre galt das Immunsystem als eine selbständig arbeitende Einheit: Immunzellen, Antikörper und Botenstoffe greifen in einem komplexen, fein abgestimmten System ineinander, um den Körper vor Krankheitserregern und anderen Gesundheitsgefahren zu schützen. Das tun sie jedoch keineswegs autonom. In den vergangenen Jahrzehnten fanden Wissenschaftler immer mehr Belege dafür, dass die Immunabwehr eng mit der Psyche und dem Nervensystem kooperiert.

Wie sie interagieren, auf welchen Wegen sie Informationen austauschen und sich gegenseitig beeinflussen, das erforscht die Psychoneuroimmunologie. Einer ihrer Pioniere im deutschsprachigen Raum ist Professor Dr. Christian Schubert. Der Arzt, Psychologe und Psychotherapeut aus München gründete vor 25 Jahren das Labor für Psychoneuroimmunologie an der Universitätsklinik für Medizinische Psychologie in Innsbruck und schrieb mehrere populärwissenschaftliche Bücher zum Thema. Im Deutschen Kollegium für Psychosomatische Medizin leitet er die Arbeitsgruppe Psychoneuroimmunologie.

Eng verknüpft

»Psyche, Nerven und Immunsystem sind eng miteinander verknüpft und besitzen eine gemeinsame Sprache zur Verständigung«, erklärt Schubert im Gespräch mit PTA-Forum. »Nerven- und Immunzellen haben auf ihrer Oberfläche die gleichen Rezeptoren, sie kommunizieren über dieselben Botenstoffe.« Einige Nervenbahnen besitzen sogar eine direkte Verbindung zu Immunorganen, über die sie deren Aktivität steuern können.

Wer dauernd unter Stress steht, wird schneller krank – diese Erfahrung haben schon viele Menschen gemacht. Anfang der 1990er-Jahre lieferte eine britische Studie den wissenschaftlichen Nachweis dafür. Forscher infizierten 394 gesunde Freiwillige unter Quarantänebedingungen mit verschiedenen Erkältungsviren und stellten fest: Je stärker gestresst sich die Versuchspersonen zu Beginn fühlten, desto höher war die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung. In noch stärkerem Maße steigerten belastende Lebensereignisse – etwa eine Scheidung oder der Tod eines Familienangehörigen – die Infektanfälligkeit.

Ebenfalls durch Studien belegt ist, dass latente Infektionen mit Herpes-simplex- oder Epstein-Barr-Viren unter Stress häufiger reaktiviert werden. Bei HIV-positiven Patienten kann Stress sogar den Erfolg der hochaktiven antiretroviralen Therapie (HAART) beeinträchtigen: Je höher die psychische Belastung zu Beginn der Behandlung war, desto höher war in einer Untersuchung die verbleibende Viruslast nach sechs Monaten.

Eine weitere Folge der stressbedingten Hemmung der Immunaktivität: Die Wundheilung dauert länger. US-amerikanische Forscher wiesen nach, dass künstlich gesetzte Hautläsionen bei pflegenden Angehörigen von Alzheimer-Patienten um 24 Prozent langsamer verheilten. Prüfungsstress bei Studenten verlängerte die Heilungsdauer um 40 Prozent, Feindseligkeit unter Ehepartnern sogar um 60 Prozent. Bei Menschen, die Zorn und Ärger schlecht kontrollieren konnten, verlief der Wundverschluss ebenfalls verzögert.

Stress ist aber nicht grundsätzlich schlecht fürs Immunsystem. Eine kurzfristige psychische Belastung, wie zum Beispiel ein vorübergehender Streit mit dem Partner, kann die körpereigenen Abwehrkräfte sogar stärken. Sie aktiviert in erster Instanz den Sympathikus als Teil des autonomen Nervensystems, erläutert Schubert. Das regt das Nebennierenmark an, die Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin auszuschütten. Die Folge: Der Blutdruck geht in die Höhe, das Herz schlägt schneller, Blutzucker wird freigesetzt, um Energiereserven zu mobilisieren. Auch die Abwehrkräfte werden angekurbelt: Die Stresshormone rufen entzündungsfördernde T-Helferzellen (TH1) auf den Plan. Dadurch kommt es zu einer kurzzeitigen Entzündungsreaktion, die wie ein erster Schutzwall gegen mögliche Krankheitserreger wirkt. All das dient dazu, den Körper auf die Abwehr der potenziellen Gefahr vorzubereiten.

Dauerhaft in Alarmbereitschaft

Auf längere Sicht würde diese akute Alarmbereitschaft den Körper aber schädigen. Durch die Produktion von Cortisol in der Nebennierenrinde sorgt der Organismus deshalb dafür, dass die Entzündungsprozesse schnell wieder eingedämmt werden. Hält die Stressbelastung an, schwächt das die Infektabwehr: Bei chronischem Stress ist der Cortisolspiegel im Blut dauerhaft erhöht (Hypercortisolismus). Das bremst die Aktivität der TH1-Zellen. Im Gegenzug gewinnen die TH2-Zellen die Oberhand, die die Antikörperproduktion durch B-Zellen stimulieren. Das Immunsystem gerät aus der Balance. »Wird der Alarmzustand des Körpers längerfristig aufrechterhalten, steigt einerseits die Infektanfälligkeit und andererseits das Risiko für Allergien«, verdeutlicht Schubert.

Die Verschiebung der Immunaktivität ließ sich auch auf zellulärer Ebene nachweisen: In Wundheilungsstudien beispielsweise fanden sich in der Hautverletzung geringere Mengen typischer TH1-Zytokine wie Interleukin-1 und Tumornekrosefaktor alpha, wenn die Menschen unter Stress standen. In einer anderen Studie beobachteten Forscher bei Alzheimer-Pflegenden einen schnelleren Anstieg des Entzündungsmarkers Interleukin-6 im Blut als bei Personen ohne Pflegestress. IL-6 spielt bei vielen chronischen Erkrankungen eine Rolle, zum Beispiel bei Arteriosklerose, rheumatoider Arthritis und Typ-2-Diabetes.

Crash im Stresssystem

Von großer Bedeutung für die Aktivität des Immunsystems ist aber nicht nur die momentane Lebenssituation. »Frühkindliche traumatisierende Belastungen können die Reaktionsfähigkeit des Stresssystems im Erwachsenenalter dauerhaft einschränken«, weiß Schubert. Bei misshandelten Kindern komme es aufgrund der anhaltenden Cortisol- Ausschüttung in einer dafür sehr empfindlichen Entwicklungsphase zu einem »Crash im Stresssystem«. Die Nebenniere produziere dann dauerhaft zu wenig Cortisol (Hypocortisolismus) und reagiere auch auf Stressreize im Erwachsenenalter nicht mehr adäquat. Das könne zum Beispiel Autoimmunerkrankungen fördern und chronische Entzündungserkrankungen begünstigen.

Belege dafür bietet eine große US-amerikanische Studie aus dem Jahr 1998. Darin wurden mehr als 17.000 Erwachsene über problematische Kindheitserfahrungen befragt – etwa über körperliche Misshandlungen, Alkohol- oder Drogenmissbrauch eines Familienmitglieds oder Trennung der Eltern. Es fand sich ein eindeutiger Zusammenhang mit dem Gesundheitszustand im Erwachsenenleben: Je mehr negative Kindheitserlebnisse die Teilnehmer zu Protokoll gaben, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, dass sie im Erwachsenenalter zum Beispiel an einer Autoimmun-, Krebs- oder Herz-Kreislauf-Erkrankung litten. Auch Depressionen und andere psychische Erkrankungen traten häufiger auf. Menschen mit mehr als sechs traumatischen Erlebnissen starben durchschnittlich 20 Jahre früher als Menschen mit einer unbelasteten Kindheit. In einer späteren Studie konnte ein Forschungsteam zeigen, dass frühe Misshandlungen 20 Jahre später mit erhöhten Entzündungswerten im Blut verbunden waren.

Sichere Bindungen schützen vor Belastung

Aber nicht nur körperliche Gewalt kann Kinder traumatisieren. »Missbrauch fängt schon viel früher an«, betont Schubert – etwa bei angstschürendem Verhalten der Eltern, übertriebenem Leistungsdruck oder seelischer Vernachlässigung. Nachgewiesen sei aber ebenso, dass sich stressbedingte Entgleisungen des Immunsystems wieder einregulieren können. Eine sichere familiäre Bindung und soziale Unterstützung schütze Kinder davor, dass psychische Belastungen das Stresssystem dauerhaft aus dem Lot bringen. So belegen Studien beispielsweise, dass Kinder von geschiedenen Eltern im Erwachsenenalter zwar insgesamt eine geringere Widerstandskraft gegen Erkältungsviren besitzen. Hatten es die Bezugspersonen jedoch trotz Trennung geschafft, miteinander im Gespräch zu bleiben, sank das Infektionsrisiko der erwachsenen Kinder auf das Niveau von Vergleichspersonen mit einem intakten Elternhaus.

Stärkend auf das Immunsystem wirkt sich nach Schuberts Erkenntnis alles aus, was die Resilienz fördert – also die Stressresistenz. »Dazu gehört beispielsweise das Gefühl, eine Situation unter Kontrolle zu haben, Selbstwirksamkeit, soziale Einbindung und eine optimistische Grundeinstellung«, führt der Arzt und Psychologe aus. Auch Religiosität scheint eine Rolle zu spielen: So kam eine Studie aus den USA zu dem Ergebnis, dass regelmäßige Kirchgänger im Schnitt eine um 25 Prozent höhere Lebenserwartung und niedrigere Entzündungswerte haben. »Alles, was der Psyche guttut, stärkt das Immunsystem«, ist Schubert überzeugt.

In Studien hat sich insbesondere die Achtsamkeits-basierte Stressbewältigung (Mindfulness-Based Stress Reduction, MBSR) bewährt. Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2016 belegt, dass MBSR Entzündungsmarker im Blut verringert, die zellvermittelte Immunität verbessert und die Zellalterung bremst. Hilfreich zur Reduktion von chronischem Stress sind nach Schuberts Erfahrung außerdem Hypnose oder Autosuggestion sowie Psychotherapie.

Auch Gefühle können »unter die Haut gehen« und die Krankheitsanfälligkeit beeinflussen. Positive Emotionen wie Freude, Dankbarkeit und Stolz können das Immunsystem stärken. Einen positiven Einfluss hat einer neuen Untersuchung zufolge vor allem die Fähigkeit, eine Vielfalt von Gefühlen zu erleben und diese auszudrücken. Je mehr unterschiedliche Emotionen Studienteilnehmer am Ende eines Tages protokolliert hatten, desto geringere Werte der Entzündungsmarker Interleukin-6, CRP (C-reaktives Protein) und Fibrinogen fanden die Forscher später in ihrem Blut. Halten negative Gefühle wie Wut oder Angst dagegen länger an, schwächen sie das Immunsystem, berichtet Schubert: »Dann führen sie zu chronischem Stress und zu einem Anstieg der Cortisol-Ausschüttung.« Als wirkungsvolle Intervention, um das Stresssystem zu beruhigen, hat sich in Studien das expressive Schreiben erwiesen. Dabei notierten und reflektierten die Teilnehmer täglich emotionale Belastungen.

Wie ein sechster Sinn

Relativ neu ist die Erkenntnis, dass nicht nur die Psyche das Immunsystem beeinflusst, sondern dass die Kommunikation auch in die umgekehrte Richtung funktioniert. Das zeigt sich beispielsweise im sogenannten »sickness behaviour« (engl: Krankheitsverhalten), wie Schubert erklärt. Sobald Immunzellen eine Infektion registrieren, leiten sie diese Information über den Parasympathikus und Botenstoffe im Blut an das Gehirn weiter. »Das Immunsystem funktioniert dabei wie ein sechster Sinn. Lange bevor sich die immunologische Reaktion körperlich manifestiert, spüren wir ein Krankheitsgefühl«, erklärt Schubert. »Das führt dazu, dass wir uns weniger bewegen, mehr schlafen und weniger Interesse an sozialen Beziehungen haben.« Insbesondere der Kontakt zu fremden Menschen werde instinktiv gemieden – vertraute Menschen, bei denen man sich wohlfühlt, seien dagegen willkommen. Offensichtlich versucht der Körper, Kräfte für den Kampf gegen die Infektion zu sammeln. »Wenn man das ‚sickness behaviour‘ durch Ibuprofen oder Paracetamol unterdrückt, weil man meint, sich eine Erkrankung nicht leisten zu können, verlängert man die asymptomatische Zeit einer Infektion«, sagt Schubert.

Angst steigert Anfälligkeit

Möglicherweise könnte ein solches Verhalten gerade in der Anfangsphase der Corona-Pandemie zur Verbreitung des Virus beigetragen haben, spekuliert der Psychoneuroimmunologe. Darüber hinaus ist er überzeugt, dass psychischer Druck und die Angst vor einer potenziell tödlichen Viruserkrankung die individuelle Anfälligkeit für Covid-19 steigern. »Genauso ist die Impfreaktion deutlich verringert, wenn Menschen chronisch gestresst sind«, betont er. Um die psychische Belastung zu verringern, seien deshalb soziale Unterstützung und freudvolle Unternehmungen in Pandemiezeiten besonders wichtig.

Dass auch viele Medikamente einen Teil ihrer Wirksamkeit dem Einfluss der Psyche verdanken, zeigt der Placebo-Effekt. Die innere Überzeugung, dass ein Arzneimittel heilsam ist, könne durchaus eine messbare Reaktion des Immunsystems auslösen, erklärt Schubert. Das dürfe man nicht als Scheinwirkung oder gar Einbildung abtun. Vielmehr scheint das Gefühl der Selbstwirksamkeit und der Kontrolle über die Erkrankung die Heilungskräfte zu aktivieren. Umgekehrt erhöht die Angst vor Nebenwirkungen das Risiko, dass ebendiese auftreten – selbst bei einem Scheinmedikament ohne Wirkstoff (Nocebo-Effekt). Um den Körper gesund zu machen, muss die Psyche also mit ins Boot geholt werden.

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