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Palliativmedizin

Dem Ende den Schrecken nehmen

Palliativversorgung ist Aufgabe spezialisierter Teams, findet aber auch täglich in Apotheken statt: zum Beispiel bei der Beratung von Schwerkranken, wenn sie ihr Rezept einlösen. Dafür brauchen PTA und Apotheker kein spezifisches zusätzliches Wissen, sondern Empathie und einen Blick für das Wesentliche.
Anna Carolina Antropov
04.03.2022  15:00 Uhr

Der Tod gehört zum Leben dazu. Unheilbar Kranken eine bestmögliche Lebensqualität bis zum Schluss zu ermöglichen, darum geht es in der Palliativversorgung. Der Begriff stammt aus dem Lateinischen »palliare«, was soviel heißt wie »mit einem Mantel abdecken«. »Wir wollen Patienten wie in einen schützenden Mantel einhüllen«, erklärt Apothekerin Dr. Constanze Rémi, Klinik für Palliativmedizin der Ludwigs-Maximilian-Universität (LMU) München, gegenüber PTA-Forum. »Unser Ziel ist nicht mehr, die Erkrankung im Fokus zu haben und zu heilen, sondern wir schauen, welche Symptome den Patienten belasten und versuchen diese so gut wie möglich zu behandeln.« Die Fachapothekerin für klinische Pharmazie ist Stationsapothekerin und leitet die Palliativ-Arzneimittelinformation (www.arzneimittel-palliativ.de) der Universitätsklinik. Sie ist außerdem in der Forschung tätig und wirkte mit an der S3-Leitlinie Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung.

Je nach Erkrankung und familiärer Unterstützung können Patienten am Ende ihres Lebens zu Hause, in palliativmedizinischen Tageskliniken oder beispielsweise in stationären Hospizen begleitet werden. Viel wichtiger als die Trennung in stationären oder ambulanten Bereich findet Rémi jedoch die Unterscheidung zwischen spezialisierter Palliativversorgung und allgemeiner, nicht spezialisierter Versorgung.

Allgemeine Versorgung

Denn sie weiß, dass Patienten mit einfachen Beschwerden, einem resilienten Gemüt und/oder viel familiärer Unterstützung oft bereits durch den Hausarzt gut betreut werden können: »Es gibt ganz viele Menschen mit lebensbedrohlichen Erkrankungen, die mit ein paar Handgriffen gut versorgt sind und einfach sterben dürfen.« Dabei agieren alle Akteure, die ohnehin in die Patientenversorgung eingebunden sind: Ärzte, Pflegedienste, Physiotherapeuten - und auch Apotheken. Besonderes fachspezifisches Wissen im Palliativbereich brauche pharmazeutisches Personal dafür übrigens nicht. »Denn die Palliativversorgung gehört ohnehin zu ihrem Alltag dazu«, erinnert Rémi. Vielen sei dies jedoch gar nicht bewusst.

Genügt das nicht, kommt die spezialisierte Palliativversorgung ins Spiel. »Sie richtet ihr Angebot an Patienten mit wirklich komplexem Symptomgeschehen«, schildert die Expertin. Das können körperliche Symptome sein, die nur schwer beherrschbar sind, wie starke Schmerzen oder Atemnot. »Das können aber auch alle möglichen anderen Beschwerden sein – oder wenn es zu Hause einfach nicht mehr funktioniert, weil kleine Kinder da sind oder die Familie mit der Versorgung überfordert ist.«

In den spezialisierten Strukturen wie Hospizen oder SAPV (= spezialisierte ambulante Palliativversorgung) arbeiten haupt- und ehrenamtliche Experten wie Palliativmediziner, Pflegekräfte, Seelsorger, Psychologen, Atemtherapeuten, Musiktherapeuten sowie Apotheker und viele weitere Berufsgruppen in multidisziplinären Teams eng zusammen. Sie bringen durch entsprechende Weiterbildungen und Spezialisierung die nötige Fachexpertise mit. Gemeinsam wollen sie nicht nur körperliche Symptome und Schmerzen lindern, sondern Betroffene auch in ihren psychischen, sozialen und spirituellen Sorgen durch eine ganzheitliche Betrachtungsweise unterstützen. Das schließt Angehörige mit ihren Ängsten und Unsicherheiten explizit ein. Auf die SAPV haben seit 2007 übrigens alle gesetzlich Versicherten Anspruch, wenn sie an einer nicht heilbaren, lebensverkürzenden Erkrankung leiden und sie daher eine intensive Betreuung und Versorgung brauchen.

Lebensqualität erhalten

Zu den häufigsten körperlichen Beschwerden am Lebensende zählen Schmerzen, Atemnot, Übelkeit und Erbrechen. Auch Obstipation, Verschleimung, Juckreiz, Müdigkeit sowie Schlafstörungen treten häufig auf. Besonders wenn Patienten den ganzen Tag liegen, verdreht dies leicht den Tag-Nacht-Rhythmus. »Viele leiden zudem an Angst und Unruhe«, ergänzt PTA Stephanie Büsel, die seit Jahren gemeinsam mit Rémi in der Palliativpharmazie der LMU arbeitet. Psychische Aspekte können den Patienten mitunter stärker plagen als die körperlichen Beschwerden. »Unser Ziel ist immer, ein Symptom so weit zu lindern, dass es für die Betroffenen akzeptabel ist«, betont Rémi. 70 bis 80 Prozent der Patienten mit fortgeschrittener Krebserkrankung leiden beispielsweise an mittleren bis starken Tumorschmerzen. In der Schmerztherapie haben neben Analgetika und Co-Analgetika auch onkologische Therapieoptionen wie Bestrahlung ihren Stellenwert.

Doch die beste Pharmakotherapie wird Schmerzen nicht lindern, wenn nur der Tumor und nicht das Leid des Menschen als Gesamtheit betrachtet wird. Denn das Total-Pain-Modell ist besonders in der Palliativmedizin von zentraler Bedeutung. Das erleben auch Rémi und Büsel immer wieder, wenn Patienten eigentlich wenig somatische Ursachen für beispielsweise Schmerzen haben. Ihre Behandlung kann mitunter sehr herausfordernd sein. »Das wichtigste ist hier: nicht immer mehr Medikamente geben, nur weil es die einfachste Stellschraube ist«, mahnt Rémi. »Manchmal müssen wir auch einfach akzeptieren, dass wir Leid nicht so lindern können, wie wir es wünschen.« Um absolute Schmerzfreiheit gehe es explizit nicht, sondern um ein erträgliches Schmerzniveau, mit dem ein guter Alltag möglich ist. Glücklicherweise könne das fast jedem Patienten ermöglicht werden.

Beratend helfen

Auch pharmazeutisches Personal kann durch wertvolle Tipps oder gezielte Fragen die Therapie optimieren, Therapietreue stärken und nachhaltig die Lebensqualität verbessern. Denn ob Analgetika, Antiemetika oder Laxans: Medikamente können nur helfen, wenn sie auch eingenommen werden. Statt also darauf zu warten, bis ihre Wirkung nachlässt und Symptome wie Schmerz oder Übelkeit erneut aufflammen, sollen Patienten ihre Medizin regelmäßig und nach festem Schema beziehungsweise nach einer festen Uhrzeit einnehmen. Das kann nicht oft genug wiederholt werden.

Klassischerweise kombinieren Ärzte Opioidanalgetika mit einem peripheren Analgetikum wie Novaminsulfon, Paracetamol oder einem nicht steroidalen Antirheumatikum. Einige Patienten kommen gut mit einem Opioidanalgetikum alleine zurecht. »Das würde ich dann gar nicht als Kunstfehler werten«, schildert Rémi. »Ist der Patient jedoch nicht gut schmerzkontrolliert, dann ist es sehr wohl zu hinterfragen.«

Manchmal scheut der Patient oder Arzt die Verordnung eines Betäubungsmittels aus falscher Furcht vor Abhängigkeit oder Stigma. »Aber eigentlich lassen sich alle Mythen, die gegen den Einsatz von Morphin und Co. sprechen, gut entkräften«, beruhigt Rémi. »Natürlich gewöhnt sich der Körper daran, aber das gilt ja auch für viele andere Arzneimittel, die wir langsam ausschleichen und nicht abrupt absetzen dürfen.« Es entstehe weder eine psychische Abhängigkeit noch müsse bei adäquater Dosierung mit einer Atemdepression gerechnet werden.

Bei Neuverordnung eines Opioids würde die Apothekerin Patienten warnen, dass die Medikamente in den ersten Tagen oft müde machen. So können die Patienten die Nebenwirkung in ihren Tagesablauf einplanen und lassen sich hoffentlich nicht abschrecken, ehe der Körper sich an die Müdigkeit adaptiert. Viele reagieren zu Behandlungsbeginn außerdem mit Übelkeit. Einige Ärzte verordnen zusätzlich direkt ein Antiemetikum. Falls nicht, könne gegebenenfalls das freiverkäufliche Dimenhydrinat die ersten Tage überbrücken.

»Fast am wichtigsten finde ich jedoch, Patienten von Anfang an darauf einzuschwören, auf den Stuhlgang zu achten«, betont Rémi. Meist ist ein Polyethylenglykol-Präparat mit Elektrolyten das Laxans der Wahl. Auch hier können Apotheken durch Beratung viel bewirken: Beklagen Patienten den scheußlichen Geschmack, könne beispielsweise die Firma gewechselt, das Pulver mit Saft gemischt oder in weniger Volumen gelöst werden, wenn sie reichlich hinterher trinken. Auch mit Trockenobst oder anderen Laxanzien sind individuelle Wege möglich. Dafür muss Stuhlgang zum Thema werden. Denn vielen ist gar nicht bewusst, wie wichtig die prophylaktische Behandlung ist. Doch sind Kotsteine erst einmal da, bekommt man sie nur schwer weg.

Wer leidet?

Einige Symptome belasten die Angehörigen mehr als den Patienten. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Rasselatmung. Sie tritt in den letzten Stunden und Tagen unmittelbar vor dem Tod auf, wenn der Mensch zunehmend zu schwach wird, um Sekret abzuhusten. Auch Schluckreflexe funktionieren oft nicht mehr gut, wodurch sich Sekret in der Luftröhre bei jedem Atemzug geräuschvoll auf und ab bewegt. Üblicherweise verzichten Ärzte auf das Absaugen, um dem Kranken unnötige Maßnahmen zu ersparen. Denn tatsächlich beeinträchtigt die Rasselatmung die Sterbenden selbst wohl nicht, Ein- und Ausatmung werden dadurch nicht behindert. »Ich finde es wichtig, die Angehörigen auf solche Situationen vorzubereiten – also, dass das normal ist«, erklärt Büsel. Denn für die Familie ist dieses Rasseln nur schwer zu ertragen. Anticholinergika können die Rasselatmung reduzieren. Tatsächlich wird der Patient dabei aber in erster Linie therapiert, um das Umfeld zu entlasten.

Wirkstoffe wie Butylscopolamin besitzen für diese Indikation keine Zulassung, werden also Off Label eingesetzt. In der Palliativversorgung ist das keine Seltenheit. Einerseits fehlen insbesondere bei sehr alten Wirkstoffen wirtschaftliche Interessen der Hersteller, für hohe Kosten die Zulassung zu erweitern, obwohl mehr als genug Daten vorliegen. Andererseits hapert es teilweise schlichtweg an Alternativen, sodass den Behandlern nichts anderes übrig bleibt, als auszutesten, ob ein Medikament beispielsweise subkutan verabreicht werden kann oder gegen ein Symptom hilft. »Das erfordert natürlich wesentlich mehr Sicherheitsüberlegungen als Morphin bei Atemnot«, erklärt Rémi. Sie arbeitet an einem großen Projekt, um Versorgungsstrukturen für gängige Arzneimittel in der Palliativversorgung klare Empfehlungen zum Off- Label-Gebrauch an die Hand zu geben.

Kaum Appetit

Auch Appetitmangel, mangelnde Flüssigkeitszufuhr und die zunehmende (Tumor-)Kachexie besorgen vor allem die Familie. Wenn es für den Patienten selbst ein Problem darstellt, sollte genauer nachgehakt werden: Ist es eine Geschmacks- oder Geruchsstörung? Oder steckt möglicherweise Angst vor dem Essen dahinter, weil danach gastrointestinale Beschwerden auftreten? Bei parenteraler Ernährung ist es nicht unüblich, dass der Appetit versiegt. Schließlich erhält der Mensch so die wesentlichen Nährstoffe.

»Bei Geschmacksstörungen haben wir leider nicht so viele Möglichkeiten«, sagt Rémi. »Was wir immer gerne ausprobieren, ist beispielsweise Zink oder auch Magnesium, da ein Elektrolytmangel damit assoziiert sein kann.« Oft brauche ein Schwerkranker jedoch einfach nicht mehr so viel. Apotheker und PTA sollten sich dann zutrauen, dies feinfühlig den Angehörigen zu vermitteln und falschen Aktionismus auszubremsen.

Keine Furcht

Denn zwischen Stammkunden und pharmazeutischem Personal entwickelt sich über die Zeit ein Vertrauensverhältnis, sodass – nicht zuletzt durch den niedrigschwelligen Zugang – Themen zur Sprache kommen können, die beim Arzt vor Aufregung vergessen werden oder als nicht der Rede wert erscheinen.

Verständlicherweise sind Krankheit, Tod und Sterben Themen, bei denen passende Worte mitunter schwerfallen. Niemand möchte etwas Falsches sagen. PTA Büsel erinnert: »Doch eigentlich gehen wir in der Apotheke mit Angehörigen und Patienten gleich um, egal ob nun Palliativpatient oder normaler Kranker.« Sie ermuntert, keine falsche Scham vor solchen Gesprächen zu haben. »Man ist ja bei jedem Patienten einfühlend und versucht das Medikament sowie die Einnahme zu erklären und auf mögliche Symptome hinzuweisen.«

Dennoch gibt es einige grundlegende Aspekte für die Kommunikation mit dieser Personengruppe. Der wichtigste vorab: Die Beratung und Unterstützung von Patient und Angehörigem gelingt nur mit patientenzentrierter Kommunikation. Im Fokus stehen dabei die aktuellen Beschwerden, Bedürfnisse sowie etwaige Probleme. Je nach verordnetem Medikament bietet sich eine Frage nach Symptomen oder der Verträglichkeit an. »Wir fragen zum Beispiel: Wie ist es mit den Schmerzen?«, erzählt sie von ihrem Alltag. Wenn der Patient sage, es sei gut, dann passe es.

Vielleicht hat der Patient auch Fragen zur Anwendung oder fürchtet Nebenwirkungen? Je klarer körperliche und emotionale Probleme wahrgenommen und geäußert werden, desto besser lassen sie sich behandeln oder eine Lösung finden. Der Patient empfindet im besten Fall Selbstwirksamkeit, fühlt sich ernst genommen und gesehen. Aktives Zuhören, also Nachfragen, ob man alles richtig verstanden hat, unterstützt das Gespräch.

Dabei bilden Aufrichtigkeit, Empathie und Ehrlichkeit die Basis. Letzteres bedeutet jedoch nicht, dass mehr Details genannt werden müssen, als der Patient hören möchte. Auch falsche Hoffnung nutzt dem Patienten nichts, sondern wirkt unangemessen und verspielt Vertrauen. Bricht ein Patient in der Apotheke in Tränen aus, dürfe man also keinesfalls reflexartig Floskeln wie »alles wird wieder gut« anbringen. »Stattdessen darf man durchaus einmal nichts sagen und einfach da sein«, so Rémi. Und wenn dabei die Offizin voller Kunden ist? »Für mich würde dann passen zu sagen: Wollen Sie sich kurz nebenan in den Beratungsraum setzen und ich komme gleich zu Ihnen, wenn es etwas leerer ist? Oder wir tauschen uns in den nächsten Tagen aus, wenn wir ein bisschen Zeit haben?« 

Betreten Angehörige erstmals nach dem Tod ihre Stammapotheke, dürfen Mitarbeiter sie ihrer Meinung nach ruhig ansprechen und ihr Beileid aussprechen. Schließlich sei der Verlust ohnehin präsent. »Auch wenn unser Fokus klar auf dem Körper liegt, gehört zu unserem Berufsalltag viel mehr als nur das Körperliche«, erinnert die Apothekerin.

Viel früher nutzen

»Gerade wenn man mit Schwerkranken zu tun hat, darf und soll man auf die Palliativversorgung hinweisen«, betont Büsel. »Sie hilft nicht erst in den letzten Tagen und Wochen, sondern schon viel früher. Es gibt zahlreiche Unterstützungsangebote.« Sie wünscht sich, dass dieses Tabuthema offener angesprochen wird. Dafür können beispielsweise Informationsbroschüren von der Krebshilfe oder lokalen Hospizvereinen ausgelegt werden. Auch für Angehörige gibt es von Schulungen über Selbsthilfegruppen bis hin zur Trauerbegleitung verschiedene Angebote. Sie nehmen als Unterstützer und Mitbetroffener eine ganz besondere Rolle ein und sollten ermutigt werden, sich rechtzeitig Hilfe zu holen.

Öffentliche Apotheken können bei der Belieferung eines Rezepts also eine ganze Menge bewirken: Ängste zerstreuen, zu Nebenwirkungen beraten oder bei unzureichender Symptomkontrolle als Lotse arbeiten und an entsprechende Stellen verweisen. Damit tragen öffentliche Apotheken schon heute maßgeblich dazu bei, unheilbar Kranken eine bestmögliche Lebensqualität bis zum Schluss zu ermöglichen. »Viele Apotheker und PTA sehen jedoch gar nicht, dass sie dabei eine ganz wichtige Rolle haben«, so Rémi.

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