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Plötzlicher Kindstod

Eine Zigarette am Tag verdoppelt das Risiko

Der plötzliche Kindstod bleibt mysteriös. Bei der Ursachenforschung sind neben äußeren Risikofaktoren mittlerweile auch genetische Aspekte in den Fokus gerückt.
Ulrike Viegener
04.10.2019  16:00 Uhr

Eine ist keine: Das ist ein beliebter Spruch, wenn es ums Zigarettenrauchen geht. Aber dieser Spruch ist falsch – ganz besonders in der Schwangerschaft mit Blick auf die Gesundheit des ungeborenen Kindes. Das hat eine kürzlich publizierte US-amerikanische Studie nachdrücklich gezeigt: Wenn Frauen in der Schwangerschaft nur eine Zigarette am Tag rauchen, verdoppelt sich das Risiko, dass ihr Kind im ersten Lebensjahr am plötzlichen Kindstod verstirbt.

Der plötzliche Kindstod kommt meist über Nacht. Babys, die allem Anschein nach völlig gesund sind, werden am Morgen tot aufgefunden. Eine medizinisch einleuchtende Todesursache findet sich – auch bei einer Obduktion – nicht. Definitionsgemäß ereignet sich der plötzliche Kindstod in den ersten 365 Tagen nach der Geburt, zu einem geringen Prozentsatz treten solche mysteriösen Todesfälle aber auch jenseits des ersten Lebensjahres auf. Die meisten Ereignisse fallen in den zweiten bis vierten Lebensmonat. Der plötzliche Kindstod wird auch als Krippentod bezeichnet, auf Englisch heißt das Phänomen »Sudden Infant Death Syndrome« oder kurz SIDS.

Die Suche nach bestimmten Ereignissen, die dem Krippentod möglicherweise vorausgehen, blieb bisher erfolglos. Auch das »anscheinend lebensbedrohliche Ereignis« (Apparent Life-Threatening Event, ALTE) steht wohl nicht – wie zunächst vermutet – mit dem plötzlichen Kindstod in Zusammenhang. Dabei treten plötzlich alarmierende Symptome wie Erstickungsanfälle, Würgen, blasse oder bläuliche Hautfarbe und/oder Änderungen des Muskeltonus (Erschlaffen oder Versteifen) auf. Oft setzt nach kurzer Zeit eine spontane Besserung ein. Eventuell kommt es jedoch zum Atemstillstand, wobei zügige Wiederbelebungsmaßnahmen in aller Regel erfolgreich sind. Ebenso wie der plötzliche Kindestod sind die meisten ALTE-Ereignisse im ersten Lebensjahr angesiedelt. Bei einem Teil der offenbar heterogenen Fälle finden sich plausible Ursachen wie gastroösophagealer Reflux oder Arrhythmien. Die Hälfte der Fälle jedoch bleibt rätselhaft.

Deutlicher Rückgang

Plötzliche Kindstode sind heute deutlich seltener als vor rund 30 Jahren. Laut der Gesundheitsberichterstattung des Bundes wurden 1991 in Deutschland 1285 Fälle registriert. 2013 waren es dagegen 152, und auf diesem Niveau scheinen sich die Zahlen einzupendeln. Zwar ist nicht auszuschließen, dass die hohen Fallzahlen aus den 1990er-Jahren angesichts der heute verbesserten diagnostischen Möglichkeiten nach unten korrigiert werden müssten. Trotzdem ist von einem deutlichen Rückgang des plötzlichen Kindstods auszugehen. Legt man die vom Bund vorgelegten Zahlen zugrunde, bewegt sich der Rückgang in einer Größenordnung um 90 Prozent. Trotzdem bleibt der plötzliche Kindstod eine der häufigsten Todesursachen im Säuglingsalter. Jungen sind mit 60 Prozent etwas häufiger betroffen als Mädchen.

Der Rückgang der plötzlichen Todesfälle im Säuglingsalter wird maßgeblich auf die Aufklärung über mögliche Risikofaktoren und geeignete Präventionsmaßnahmen zurückgeführt. Bereits früh geriet das Rauchen der Mutter während der Schwangerschaft als Risikofaktor in Verdacht. In einer vom Bundesministerium für Bildung und Forschung durchgeführten Studie rauchten Mütter von Säuglingen, die an einem plötzlichen Kindstod verstarben, zu 62,5 Prozent.

Offenbar ist der Einfluss des Rauchens verheerender, als bislang angenommen. In der eingangs erwähnten US-amerikanischen Studie, die 2019 im Fachjournal »Pediatrics« erschienen ist, wurden die Geburtsbescheinigungen aller zwischen 2007 und 2011 in den USA geborenen Kinder ausgewertet. Von den mehr als 20 Millionen erfassten Kindern starben 19.127 im ersten Jahr plötzlich und unerwartet. Da in den USA die Rauchgewohnheiten der Mütter kurz vor und während der Schwangerschaft routinemäßig protokolliert werden, war es möglich, die Kindssterblichkeit mit dem Rauchverhalten der Schwangeren in Beziehung zu setzen.

Der Zusammenhang war eindeutig: Kinder von Frauen, die in der Schwangerschaft eine Zigarette pro Tag rauchten, hatten ein doppeltes Risiko, am plötzlichen Kindstod zu versterben (Odds Ratio 1,98). Mit jeder weiteren Zigarette stieg die Gefährdung des Säuglings linear an. Bei 20 Zigaretten war das Risiko im Vergleich zu »nikotinfreien« Schwangerschaften mehr als dreimal so hoch (Odds Ratio 3,17). Und auch, wenn die Mütter vorher geraucht hatten, während der Schwangerschaft aber darauf verzichteten, war eine erhöhte Rate plötzlicher Kindstode nachweisbar (Odds Ratio 1,47).

Zum Rauchverzicht motivieren

Die Botschaft an jüngere Frauen lautet also: Am besten überhaupt nicht mit dem Rauchen anfangen und in der Schwangerschaft unbedingt das Rauchen aufgeben. Auch mit Blick auf den plötzlichen Kindstod kann diese Ansage im Beratungsgespräch nicht oft genug wiederholt werden. Laut dem Deutschen Krebsforschungszentrum stellen Single-Frauen eine Risikogruppe dar: Die Raucherquote während der Schwangerschaft ist bei allein lebenden Frauen mehr als dreimal so hoch wie bei verheirateten Frauen (62 versus 17 Prozent). Und bei allein erziehenden Müttern wurde eine Raucherquote von 52 Prozent ermittelt im Vergleich zu 28 Prozent bei verheirateten Müttern.

Um den Rauchverzicht zu erleichtern, werden unterschiedliche Nikotinersatzpräparate, etwa Nikotinpflaster, -lutschtabletten oder -sprays, angeboten. Aber auch die sollten in der Schwangerschaft tabu sein. Denn eine weitere US-amerikanische Studie kommt zu dem Schluss, dass Nikotin aus solchen Präparaten ebenfalls in relevanten Mengen in den kindlichen Kreislauf übertritt und das Nervensystem des Embryos schädigen kann. Und auch wenn das Kind geboren ist, gilt die Exposition gegenüber toxischen Inhaltsstoffen des Zigarettenrauchs mit Blick auf den Krippentod als Risikofaktor Nummer 1.

Als weitere Risikofaktoren, die Ansatzpunkte der Prävention darstellen, gelten

  • Schlafen des Säuglings in Bauch- oder Seitenlage
  • Stillverzicht und
  • Überwärmung.

In den 1970er-Jahren sprachen Kinderärzte die Empfehlung aus, Babys zum Schlafen auf dem Bauch zu lagern – damit haben sie wahrscheinlich mehrere 10.000 Todesfälle provoziert. Obwohl wissenschaftlich nicht haltbar, hat sich diese Empfehlung erstaunlich hartnäckig gehalten, wie Professor Dr. Jan Peter Sperhake vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf im Fachjournal »Rechtsmedizin« konstatiert. Erste Hinweise, dass die Bauchlage möglicherweise gefährlich sein könnte, kamen aus den Reihen kriminalpolizeilicher Ermittler. Später zweifelten dann auch Mediziner die Richtigkeit der Empfehlung an. Es sollte aber noch viele Jahre dauern, bis offiziell und nachdrücklich von einer Bettung der Säuglinge in Bauchlage abgeraten wurde. Im Zuge der geänderten Empfehlung wurde auffällig, dass auch die Seitenlage ein Risiko für den plötzlichen Kindstod birgt. Sie ist instabil, sodass die Kinder leicht von der Seite auf den Bauch rollen können. Das Schlafen der Kinder im elterlichen Bett ist besonders dann riskant, wenn die Eltern Raucher sind.

Prädisponierende Genvarianten?

Neben äußeren Faktoren können beim plötzlichen Kindstod nach neueren Erkenntnissen auch genetische Aspekte eine Rolle spielen. Dafür spricht nicht zuletzt die Tatsache, dass Geschwister von Säuglingen, die einen plötzlichen Herztod erleiden, ebenfalls gefährdet sind. Laut einer dänischen Registerstudie ist ihr Risiko um den Faktor 4 erhöht.

Als ein Risikogen steht das SCN4A-Gen in Verdacht, das für einen spannungsabhängigen Natriumkanal der Muskulatur kodiert. Dieser Natriumkanal ist maßgeblich an der Atemregulation beteiligt. Bei an SIDS verstorbenen Säuglingen wurden ungewöhnlich häufig – nämlich bei 4 Prozent von 278 Fällen – Varianten des SCN4A-Gens gefunden, die mit Funktionsstörungen des Membrankanals verbunden waren. Bei 729 gesunden Kontrollkindern fanden sich solche Mutationen dagegen in keinem einzigen Fall. Bei einer Subgruppe von SIDS-Kindern könnte das SCN4A-Gen also eine Rolle spielen. Die Forscher gehen aber nicht davon aus, dass die Genvariante bei den betroffenen Kindern die alleinige Todesursache ist. Sie vermuten vielmehr, dass ein unglückliches Zusammentreffen verschiedener Faktoren verantwortlich ist.

Mehrere Faktoren

Drei Faktoren müssen nach der Triple-Risk-Hypothese zusammenkommen:

  • ein äußere Belastungssituation, die zu einer verminderten Sauerstoffzufuhr führt 
  • eine kritische Entwicklungsphase und
  • eine erhöhte Vulnerabilität etwa durch ein Risikogen oder die Exposition gegenüber toxischen Stoffen wie Nikotin.

Zum plötzlichen Kindstod kommt es nach aktuellem Verständnis deshalb, weil die Säuglinge auf eine akut einsetzende Hypoxie nicht adäquat reagieren können. Normalerweise werden bei einer Mangelversorgung mit Sauerstoff automatisch Schutzreflexe ausgelöst: Schnappatmung setzt ein, und der Aufwachreflex wird aktiviert. Wie Monitoraufzeichnungen von SIDS-Kindern belegen, scheint die Schnappatmung in der kritischen Phase zu funktionieren, ohne dass die Kinder jedoch wach werden. Was dies verhindert, ist nicht abschließend geklärt.

Als ein möglicher Grund stehen Störungen im Serotonin-Stoffwechsel im Verdacht, denn Serotonin spielt als Neurotransmitter des Atemzentrums bei der Aufwachreaktion eine entscheidende Rolle. Tatsächlich konnte gezeigt werden, dass ein Drittel aller SIDS-Kinder erhöhte Serotonin-Konzentrationen im Blut aufwies. Auch scheint eine Mutation im Serotonin-Transporter-Gen mit dem plötzlichen Kindstod assoziiert zu sein.

Viele Puzzlesteine also, aber noch kein vollständiges Bild. Derzeit sieht es danach aus, dass unterschiedliche Risikokonstellationen in einen plötzlichen Kindstod münden können, der in letzter Konsequenz auf Atemversagen zurückzuführen ist. Die Minimierung äußerer Risikofaktoren ist und bleibt die wichtigste Strategie. Würden die entsprechenden Empfehlungen lückenlos befolgt, ließen sich Schätzungen zufolge rund 90 Prozent der aktuellen Fälle verhindern.

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