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Hildegard von Bingen

Heilige und Heilkundige

Seit den 1970er-Jahren erlebt die Kloster­medizin hierzulande eine wahre Renaissance. Das Wissen der Heilkundigen des Mittelalters, die »Traditionelle Europäische Medizin«, wurde wieder entdeckt, neu belebt und modernisiert. Die Ideen der Heiligen Hildegard von Bingen zur Heilkunde sind noch immer in vielem hochaktuell.
Edith Schettler
13.03.2019  17:38 Uhr

Im Jahr 1098 kam das zehnte Kind der Edelfreien Mechthild und Hildebert von Bermersheim, angesehener und alteingesessener Adeliger in Rheinhessen, zur Welt. Es wuchs in einer Zeit auf, in der es nur die eine Weltanschauung gab: den bedingungslosen Glauben an Gott und die biblische Schöpfungsgeschichte. Das zarte und kränkliche Mädchen wurde auf den Namen Hildegard getauft. Meist war das Kind still und in sich selbst versunken und hatte eigenartige Visionen, eine Gabe, die Hildegard ihr Leben lang behielt.

Im Alter von zwölf Jahren gaben die Eltern das sensible und kluge Mädchen in die Obhut des nahe Bingen gelegenen Klosters Disibodenberg. Für Hildegard war das ein großes Glück, denn Klosterschulen für Mädchen waren rar. Jutta von Sponheim (1092–1136) und Hildegards späterer Sekretär, der hochgebildete Mönch Volmar, wurden ihre Lehrer. Im Gegensatz zu den männlichen Klosterschülern erhielten die Mädchen jedoch keine umfassende Ausbildung. Sie lernten vielmehr praktische Dinge wie Handarbeiten und Gartenpflege. Sie beklagte später, dass sie nur Lesen, Schreiben und etwas Latein gelernt hätte und bezeichnete sich als »schwache, erbärmliche Frau«.

Die »Posaune Gottes«

Über ihre Visionen, die Hildegard weiter begleiteten, sprach sie mit ihrer Lehrerin und Freundin Jutta von Sponheim. Sie selbst war der Ansicht, alle Menschen hätten diese Erlebnisse und redete frei darüber, während Jutta sehr wohl die Gabe ihrer Schülerin erkannte. Erst im Alter von etwa 15 Jahren wurde auch Hildegard klar, dass sie besondere Fähigkeiten hatte, für die sie sich jetzt schämte und von denen sie seitdem gegenüber niemandem mehr ein Wort verlauten lassen wollte.

Als Jutta von Sponheim im Jahr 1136 starb, wählten ihre Mitschwestern Hildegard zur neuen Magistra der Nonnen des Klosters. Mit Abt Kuno von Disibodenberg lebte Hildegard in ständigem Widerstreit, weil sie seinen religiösen Übereifer ablehnte und die asketischen Regeln für die Nonnen lockerte, indem sie beispielsweise die extrem langen Gebetszeiten kürzte und den Speiseplan erweiterte.

Knapp fünf Jahre später hatte Hildegard eine tiefgreifende Vision, in der ihr Gott befahl, ihre weiteren Visionen künftig niederzuschreiben, sie solle zur »Posaune Gottes« werden. Der Gedanke, ihre mystischen Erlebnisse veröffentlichen zu müssen, machte sie regelrecht krank. So begann sie im Jahr 1141 ihr erstes großes Werk »Liber Scivias« (»Wisse die Wege«) zu verfassen. Geplagt von Selbstzweifeln und wohl auch, um sich selbst vor möglichen Schwierigkeiten zu schützen, gab sie das Manuskript nach seiner Fertigstellung Heinrich, dem Erzbischof von Mainz, zu lesen. Dieser übersandte eine Abschrift des Buches zum endgültigen Urteil an Papst Eugen III. Im Rahmen der Trierer Synode im Jahr 1147 segnete der Papst schließlich Hildegards Werk und ermutigte sie zum weiteren Schreiben.

Heutige Neurologen wie der Brite Oliver Wolf Sacks (1933–2015) deuten Hildegards Visionen als starke Migräneanfälle mit einer ausgeprägten Aura von Lichterscheinungen. Andere Wissenschaftler vermuten eine Multiple Sklerose mit Entzündungen des Sehnerven während eines Krankheitsschubes. Die letzte Theorie würde auch erklären, warum Hildegard oft wochenlang ans Bett gefesselt war, unfähig, sich zu bewegen oder zu sprechen.

Erfolgreiche Unternehmerin

Ihr Erfolg mit ihrem ersten Buch bescherte dem Kloster Disibodenberg einen großen Zustrom an Novizinnen, so dass sich Hildegard im Jahr 1150 entschloss, auf dem Rupertsberg nahe der Stadt Bingen ein eigenes Kloster zu gründen. Mit dem Tod des Abtes Kuno gestand der Mainzer Erzbischof Arnold im Jahr 1158 Rupertsberg die finanzielle Unabhängigkeit zu, und Hildegards Kloster wurde in der Folgezeit recht wohlhabend. Um das Nonnenkloster vor Übergriffen zu schützen, erbat sich Hildegard den Beistand des Erzbischofs und des Stauferkaisers Friedrich Barbarossa. Die Verträge kamen 1163 zu Stande, obwohl es damals durchaus nicht üblich war, dass eine Frau derart selbstbewusst an die Obrigkeit herantrat, und schützten das Kloster bis zum Dreißigjährigen Krieg.

Nach zehn Jahren war das Kloster Rupertsberg bereits wieder zu klein, daraufhin gründete Hildegard im Jahr 1165 in der Nähe in Eibingen ein weiteres Kloster für Novizinnen aus einfachen Verhältnissen.

Die folgenden Jahre waren für Hildegard angefüllt mit Predigtreisen entlang von Rhein, Main und Mosel. Als erste Nonne predigte sie öffentlich vor dem Volk, auch gegen die Missstände in der Kirche. Ihr Charisma und ihr Selbstbewusstsein trugen ihr Sympathie, Respekt und Popularität ein, weltliche und geistliche Würdenträger suchten bei ihr Rat.

Neben ihren Reisen und der Leitung ihrer beiden Klöster verfasste sie zwei heilkundliche Werke: »Liber simplicis medicinae: Physica« – das Buch der einfachen Medizin, heute bekannt unter dem Titel »Heilsame Schöpfung – Die natürliche Wirkkraft der Dinge«, und das »Liber compositae medicinae – Causae et Curae« (»Ursprung und Behandlung von Krankheiten«). Hildegard bereitete in diesen beiden Werken vor allem das Wissen von Hippokrates (um 460–370 v. Chr.) und Galen (um 129–216) für ihre Zeit unter ihrem eigenen Blickwinkel auf.

Ganzheitliche Medizin

Hildegards medizinische Schriften offenbaren den unglaublichen Wissensschatz der nahezu ausschließlich im Kloster erzogenen Frau, die zu Recht als Universalgelehrte gilt. Sie wusste sowohl über die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse ihrer Zeit als auch die der Antike Bescheid, war vertraut mit der Volksmedizin und kannte die Heilpflanzen ihrer Heimat, aber auch exotische Pflanzen und Gewürze und nutzte sie vermutlich auch in ihrem Kloster zur Ernährung und zu medizinischen Anwendungen.

Immer wieder kam sie in ihren Büchern auf die Sexualität zu sprechen und kannte sich bestens mit allen gynäkologischen Problemen aus. So erörterte sie offen Fragen zu Menstruation, Libido, Schwangerschaft und Geburt.

Als streng gläubige Nonne lag es für Hildegard auf der Hand, dass es keine Heilung von einer Krankheit gibt ohne die Mitwirkung Gottes. Aus eigenem Erleben sah sie Krankheiten als Ergebnis eines Missverhältnisses zu Gott an, denn immer, wenn sie gezweifelt oder sich gegen den göttlichen Willen aufgelehnt hatte, war sie krank geworden. Erst die Hingabe im Glauben hatte sie jedes Mal wieder geheilt.

Der bis in die heutige Zeit aktuelle Gedanke der Hildegard-Medizin ist der der Ganzheitlichkeit. »Drei Pfade hat der Mensch in sich, in denen sich sein Leben tätigt: die Seele, den Leib und die Sinne«. Ein Mensch ist nur gesund, wenn er an Körper, Geist und Seele gleichermaßen gesund ist. Als Basis für die Heilung erkannte sie eine gesunde Lebensführung und betonte die Wichtigkeit, in allem Maß zu halten – sowohl im Handeln als auch vor allen Dingen in der Ernährung. Hildegards Grundsätze für eine gesunde Ernährung gelten nach wie vor: Beachtung der Heilkräfte und Wirkungen der Nahrungsmittel, regelmäßiges Entschlacken des Körpers und ein harmonischer Rhythmus von Aktivität und Ruhe, damit die gesunde Ernährung ihre positive Wirkung entfalten kann.

Erst wenn eine gesunde Lebensweise nicht zum Ziel führt, empfiehlt Hildegard die Anwendung von Heilpflanzen und Arzneien, und erst ganz am Schluss stehen chirurgische Maßnahmen wie Schröpfen und Aderlass. Die Arzneien und chirurgischen Verfahren beschrieb Hildegard ebenso ausführlich wie die Ernährungslehre in ihren medizinischen Lehrbüchern. Ein Rezeptbuch hat Hildegard jedoch nie verfasst, »echte« Hildegard-Rezepte basieren auf den von ihr favorisierten Lebensmitteln und Gewürzen wie Dinkel, Bertram und Galgant und wurden erst in der heutigen Zeit kreiert.

Am 17. September 1179 starb Hildegard von Bingen im Kloster Rupertsberg im hohen Alter von 81 Jahren. Papst Benedikt XVI. sprach sie im Jahr 2012 heilig.

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