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Ganzkörper-Kältetherapie:: Kneipp 2.0 lindert viele Leiden

30.10.2018  12:14 Uhr

Von Michael van den Heuvel / Drei Minuten bei minus 110 Grad: Therapien in der Kältekammer sollen die Beschwerden bei ­zahlreichen Erkrankungen aus der Orthopädie, der Rheumatologie be­ziehungsweise der Neurologie lindern. Auch im Leistungssport setzen Ärzte auf eisige Kälte. Wie fühlt sich die Behandlung an, und was passiert im Körper?

Der medizinische Einsatz von Kälte ist keine Entdeckung unserer Tage. Schon Hippokrates (460–370 v.Chr.) beschrieb recht detailliert, welchen Effekt niedrige Temperaturen auf Entzündungen haben. Mehr als zwei Jahrtausende später entdeckte Sebastian Kneipp (1821–1897) die wohltuenden Effekte von kalten und heißen Güssen erneut. 

Auch Eisbäder sind Teil der Kultur vieler skandinavischer Länder. Die Ganzkörperkryotherapie (GKKT) in ihrer heutigen Form geht jedoch auf den japanischen Arzt Dr. Toshima Yamauchi zurück. Im Jahr 1980 stellte er ein Verfahren vor, um Patienten mit Rheumatoider Arthritis zu behandeln. Damals gab es nur wenige Arzneistoffe. Professor Dr. Reinhard Fricke brachte Yamauchis Idee nach Deutschland. Er baute 1984 die erste Einrichtung am St. Josef-Stift Sendenhorst bei Münster. Heute wird die Ganzkörperkältetherapie in Europa und darüber hinaus eingesetzt. PTA Forum sprach mit Professor Dr. Thomas Kurscheid, der GKKT in seiner Praxis in Köln anbietet, über mögliche Einsatzgebiete. »Wir setzen die GKKT bei zahlreichen rheumatischen und entzündlichen Erkrankungen ein«, erzählt Kurscheid. Dazu gehören Rheumatoide Arthritis, Polyathritis, Fibromyalgie, chronisch-entzündliche Erkrankungen der Wirbelsäule sowie der Gelenke, Psoriasis oder Neurodermitis. Aber auch bei Migräne oder Schlafstörungen lohnt sich ein Versuch. »Und nicht zuletzt schätzen Sportler tiefe Temperaturen als Teil ihres Trainings«, weiß Kurscheid. Das Immunsystem wird aktiviert, das wusste schon Kneipp, und man ist weniger anfällig für Erkältungen. Außerdem zeigt sich, bedingt auch durch die ausgeschütteten Endorphine, eine Verbesserung der Stimmung, was depressiven Patienten zugutekommt.

Selten kontraindiziert

Kurscheid bereitet alle Patienten sorgsam auf tiefe Temperaturen vor. In wenigen Fällen sollte besser auf starke Kälte verzichtet werden. Wer an einer Kryoglobulinämie, also an einer seltenen Gefäßentzündung leidet, hat im Blut Proteine, die bei Kälte unlöslich werden und zu gefährlichen Ablagerungen führen. Ebenso ist bei einer Kälteurtikaria oder bei Durchblutungsstörungen wie dem Raynaud-Syndrom – hier werden Zehen und Finger nicht richtig durchblutet – von einer Kryotherapie abzuraten. Weitere Kontraindikationen sind kurz zurückliegende Herzinfarkte, schwere, nicht behandelte ­arterielle Hypertonien und entzündliche Erkrankungen der Blutgefäße. Und nicht zuletzt sind die kleinen Räume bei starker Platzangst kaum empfehlenswert. Spricht nichts gegen eine GKKT, geht es in die eisige Kälte.

Gut geschützt bei minus 110°C

»Ältere Geräte wurden noch mit flüssigem Stickstoff betrieben«, erinnert sich der Arzt. »Moderne Systeme arbeiten jedoch elektrisch, so dass wir präziser und sicherer arbeiten können. Außerdem ist in den elektrischen Kammern der ganze Körper inklusive Kopf in der Kälte, bei Stickstoffkammern wird der Kopf ausgespart. Seine Patienten ziehen sich bis auf ihre Unterwäsche aus. Sie tragen nur Handschuhe und Schuhe, um nicht am kalten Metall »festzukleben«, das aber eigentlich in den modernen Kabinen überall zur Sicherheit mit Kunststoff überzogen wurde. Ohrenschützer oder ein Mundschutz seien möglich, aber eigentlich nicht erforderlich, weiß der Experte.

Die Behandlung beginnt in einem Vorraum bei -60°C. »Das ist erforderlich, um Feuchtigkeit von der Haut und aus der Luft zu entfernen«, erklärt Kurscheid. Dann geht es für maximal drei Minuten in den auf -110°C gekühlten Therapieraum. Über Sichtfenster oder Videosysteme haben speziell geschulte Praxismitarbeiter ihre Patienten stets im Blick. Der Patient wird aufgefordert, langsam im Kreis zu gehen oder sich zu drehen, damit sich keine warmen Luftschichten über der Haut ansammeln. Eine bestimmte Atemtechnik macht ebenfalls Sinn, da sich kalte Luft beim Erwärmen in den Lungenbläschen stark ausdehnt.

Werte von -110°C lassen Schlimmes vermuten. Doch Kurscheid zufolge trifft genau das Gegenteil zu: Für Patienten ist die GKKT angenehm, sie empfinden allenfalls ein leichtes Kribbeln. Das liegt am Phänomen der gefühlten Temperatur. Ohne Luftzug und ohne Feuchtigkeit ertragen wir tiefe Werte problemlos für kurze Zeit. Tritt man an kalten, windstillen Wintertagen leicht bekleidet kurz vor die Tür, friert man auch nicht sofort. Doch zurück zur Behandlung: Nach drei Minuten geht es über die -60°C-Kammer wieder zurück in normale Temperaturbereiche. Eine Ruhepause im Anschluss sollte eingeplant werden.

Schmerzpatienten merken sofort, wie sich ihre Beschwerden lindern. Das ist ideal für Physiotherapien in direktem Anschluss zur GKKT. Generell fühlen sich Menschen nach der GKKT erfrischt und belebt. Eine leichte Rötung der Haut aufgrund ihrer guten Durchblutung ist normal.

Schmerz, lass nach!

Warum Kälte wirkt, lässt sich durch anatomische und biochemische Vorgänge erklären. Im Unterschied zur lokalen Kryotherapie mit Eispackungen beeinflussen Therapien in der Kältekammer den gesamten Organismus. Bei -110°C verändert sich die Kerntemperatur im Körper nicht. Allerdings kühlt sich die Haut auf bis zu 5°C ab. Dadurch ziehen sich Blutgefäße zusammen. Diese Vasokonstriktion erklärt, warum Besucher die Kälte gerade im Sommer als wohltuend empfinden. Bei Wärme weiten sich oberflächliche Blutgefäße, der Blutdruck verringert sich etwas, und wir fühlen uns matt. Kälte führt kurzfristig genau zum Gegenteil.

Forscher wissen außerdem, dass niedrige Temperaturen Kältesensoren aktivieren. Hier handelt es sich vor allem um A-Delta-Fasern der Nerven. Deren extreme Stimulation führt anschließend zur Hemmung der C-Fasern, welche besonders viele Nozizeptoren enthalten. Nozizeptoren sind ein Ausgangspunkt für die Wahrnehmung von Schmerz. Ihre Funktion kann aber auch durch Kälte direkt beeinflusst werden. Nehmen Schmerzen ab, sinken mittelfristig auch die Serotonin-, GABA- oder Endorphinspiegel.

Speziell bei Sportlern nutzen Ärzte die Muskelrelaxation durch GKKT. Sie beobachten aber auch, dass Kälte das Wohlbefinden generell fördert und die Stimmung hebt. Das liegt an Hormonen wie Kortison oder Endorphinen. Der Körper schüttet Botenstoffe durch den Kälte­reiz vermehrt aus. Außerdem ziehen­ sich Gefäße unter der Haut zusammen. Etliche Muskeln werden intensiver versorgt, da ihnen mehr Blut zur Verfügung steht. Wird die Ganzkörpertherapie in der Kältekammer zum Beispiel kurz vor einem Training oder Spiel angewendet, so kann der Körper circa zehn Prozent länger an der Schwelle zum anaeroben Zustand belastet werden. Das bedeutet, Sportler bringen ganz legal­ eine höhere Leistung.

Entzündungen frieren ein

Als wichtigste Indikation nennt Kurscheid jedoch entzündlich-rheuma­tische Erkrankungen, etwa die Rheumatoide Arthritis, die Spondylitis ankylosans sowie die Fibromyalgie. Im Rahmen eines multimodalen Therapiekonzepts kommen heute nicht nur Arzneistoffe, sondern physikalische Anwendungen zum Einsatz. Durch extreme Kälte sinken­ auch die Temperaturen in Gelenken. Die GKKT führt bei regel­mäßiger Anwendung zur deutlichen Schmerz­reduktion und macht Gelenke beweg­licher. Selbst bei gesunden Probanden verminderte sich die Schmerzschwelle. Es gibt Hinweise, dass sich die Lymphozytenzahl signifikant ver­ringert, während T-Suppressorzellen sogar vermehrt­ gebildet werden. Daher wird ein immunmodulierender Effekt der Ganzkörper-Kältetherapie vermutet. Außerdem sinkt die Harnsäurekonzentration ab, was Effekte bei Gicht erklärt.

»Wir schicken Patienten mit Schmerzen oder Beschwerden anfangs zweimal pro Tag in die Kältekammer«, erzählt Kurscheid. »Nach zwei Wochen reichen zur Erhaltung zwei bis drei Anwen­dungen pro Woche aus.«

Keine Erstattung

Trotz aller wünschenswerten Effekte gibt es für Patienten einen Wermutstropfen. Ganzkörperkryotherapien gehören nicht zum generellen Leistungs­katalog gesetzlicher Krankenkassen, aber ein Kostenzuschuss ist per Einzelfallentscheidung möglich, falls der be­handelnde Arzt Anwendungen verordnet. Für den Kostenzuschuss muss ein entsprechender Antrag gestellt werden. Für Selbstzahler liegen die Kosten bei etwa 40 bis 50 Euro pro Anwendung. /