Vom Konsum in die Abhängigkeit |
Clara Wildenrath |
13.03.2017 13:46 Uhr |
Von Clara Wildenrath / Eine Sucht ist keine Charakterschwäche, sondern eine Krankheit, die zu nachweisbaren Veränderungen im Gehirn führt. Abhängig werden kann jeder – von den unterschiedlichsten Stoffen oder Verhaltensweisen.
Der eine verspielt sein ganzes Geld am Black-Jack-Automaten, die andere gibt mehr, als sie sich leisten kann, für Schuhe oder Klamotten aus. Manche können sich ihren Feierabend nicht mehr ohne drei oder vier Bierchen vorstellen. Oder brauchen regelmäßig Tabletten, um nachts schlafen zu können. Sucht hat viele Gesichter.
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Nach Schätzungen des Bundesgesundheitsministeriums gibt es in Deutschland knapp 15 Millionen Raucher, 1,8 Millionen Alkoholiker und etwa 2,3 Millionen Medikamentenabhängige. Rund 600 000 Menschen konsumieren Heroin oder andere illegale Drogen; gut 500 000 zeigen ein problematisches Glücksspielverhalten. Vor allem unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen verbreitet ist die Computerspiel- und Internetsucht: Hiervon sind ebenfalls mehr als eine halbe Million betroffen.
Die Folgen der Sucht sind sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft gravierend. Allein durch Tabak- und Alkoholkonsum entstehen der Volkswirtschaft jährlich Kosten von über 40 Milliarden Euro. Für den Betroffenen bringt der Weg in die Sucht oft schwerwiegende gesundheitliche Schäden, finanzielle Probleme, Persönlichkeitsveränderungen, Vereinsamung und sozialen Abstieg mit sich. Jedes Jahr sterben in Deutschland über 40 000 Menschen an den Folgen ihrer Alkoholerkrankung, mindestens 110 000 an den Folgen des Rauchens und etwa 1500 an den Folgen des Konsums harter Drogen.
Gewöhnung oder Kontrollverlust
Doch was ist Sucht eigentlich? Viele von uns surfen täglich im Internet oder trinken zur Entspannung gerne ein Glas Wein. Auch der Rausch auf der Party gehört für viele dazu. Wo ist die Grenze zur Abhängigkeit? »Ein wichtiges Kriterium ist der Kontrollverlust«, sagt Dr. Dietmar Kramer, Ärztlicher Leiter der Salus-Klinik Friedrichsdorf und Vorstandsmitglied des Fachverbands Sucht. »Ein Süchtiger kann nicht mehr frei entscheiden, wann und wie oft er sein Suchtmittel konsumiert.« Wenn also jemand gerne und häufig Alkohol trinkt, aber damit problemlos auch für ein oder zwei Wochen aufhören kann, riskiert er zwar möglicherweise einen Leberschaden und andere gesundheitliche Probleme – er gilt aber medizinisch nicht als abhängig. Leidet er jedoch unter Entzugserscheinungen – etwa Schwitzen, Zittern, Blutdruck- und Pulsanstieg –, sobald der Alkoholnachschub ausbleibt, spricht das für eine Sucht. Weitere Anzeichen sind die Gewöhnung an den Suchtstoff, die den Konsum immer weiter ansteigen lässt, und zunehmende Interessenlosigkeit an allem, was nicht mit dem Suchtmittel zu tun hat (siehe Kasten). Körperliche Folgeschäden werden oft in Kauf genommen oder bagatellisiert, familiäre und soziale Verpflichtungen vernachlässigt.
Nach internationaler Klassifikation (ICD-10) liegt eine Sucht vor, wenn mindestens drei dieser Kriterien erfüllt sind:
Die meisten stoffgebundenen Suchtmittel, also Alkohol, Nicotin und legale oder illegale Drogen, machen sowohl psychisch als auch körperlich abhängig. Nach Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO ist psychische Abhängigkeit das unwiderstehliche, nicht beeinflussbare Verlangen, die Droge zu konsumieren. Fachleute nennen dieses Phänomen Craving.
Die physische Abhängigkeit entsteht durch die Anpassung des Körpers an die Drogenzufuhr: Beim Absetzen kommt es zu körperlichen Entzugssymptomen; der Organismus braucht das Suchtmittel, um normal zu funktionieren. Typische Substanzen, die sehr schnell zu einer körperlichen Abhängigkeit führen, sind Heroin und Benzodiazepine, aber auch Nicotin. Weniger stark ist das physische Suchtpotenzial beispielsweise bei Kokain und Amphetaminen. Die Grenzen zwischen beiden Formen sind jedoch oft fließend und hängen auch von der Dauer und der Intensität des Konsums ab. Die psychische Abhängigkeit zu überwinden, ist in der Regel sehr viel schwieriger und zeitaufwendiger als die körperliche.
Hilfe zum Umgang mit Arzneistoffen mit Abhängigkeitspotenzial:
Quelle: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS)
Dopaminrausch im Gehirn
Eine zentrale Rolle bei der Entstehung einer Sucht spielt das Belohnungssystem des Gehirns. Im limbischen System aktivieren Suchtmittel bestimmte Botenstoffe, besonders Dopamin. Dieses dockt an speziellen Rezeptoren in einer Kernstruktur im Vorderhirn an, dem Nucleus accumbens, der für die Entstehung von Glücksgefühlen zuständig ist. Normalerweise wird die Ausschüttung dieser Neurotransmitter durch positive Empfindungen stimuliert – etwa durch leckeres Essen, ein Lob oder sexuelle Erregung. Dieser Belohnungsmechanismus diente stammesgeschichtlich der Motivation zur Selbsterhaltung. Suchtmittel führen jedoch im Vergleich zu natürlichen Reizen zu einem riesigen Überangebot von Dopamin und anderen euphorisierenden Botenstoffen. Der Körper versucht das auszugleichen, indem er beispielsweise die Zahl der Dopamin-Rezeptoren in den Zielzellen im Gehirn reduziert. Dadurch braucht er immer größere Mengen des Suchtstoffs, um die gewünschten Gefühle zu erzeugen. Bleibt die Droge aus, werden umgekehrt die negativen Empfindungen verstärkt.
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Die Rolle der Gene
Ob sich eine Sucht entwickelt oder nicht, bestimmen aber nicht alleine biochemische Vorgänge. Auch die Erbanlagen spielen eine Rolle. So haben Forscher mehrere Genvarianten gefunden, die zum Beispiel das Risiko für eine Alkoholabhängigkeit erhöhen. Dass Suchterkrankungen oft gehäuft innerhalb einer Familie auftreten, liegt jedoch auch an äußeren Faktoren: etwa am schlechten Vorbild der Eltern, an mangelnder Fürsorge und fehlenden anderen Konfliktlösungsstrategien. Das soziale Umfeld ist ebenfalls von großer Bedeutung. Zwar treten Suchterkrankungen inzwischen in allen gesellschaftlichen Schichten in etwa vergleichbarem Maß auf. Doch sind etwa illegale Drogen in Städten oft leichter erhältlich als auf dem Land. Gilt der Griff zur Flasche, zur Zigarette oder zu Partydrogen im Freundeskreis als cool, fördert das ebenfalls den Einstieg. Auch mangelndes Selbstwertgefühl, fehlende Anerkennung, Einsamkeit und belastende Lebenssituationen begünstigen die Entstehung von Abhängigkeitserkrankungen. Die Existenz einer Suchtpersönlichkeit konnten Wissenschaftler bisher jedoch nicht belegen.
Der Weg in die Abhängigkeit verläuft in der Regel über mehrere Stufen. Der erste Kontakt mit dem Suchtmittel ist meist ein Ausprobieren – beim Alkohol etwa das Gesellschaftstrinken zu besonderen Anlässen. Manche Menschen stellen dann fest, dass ihnen der Alkohol hilft, Hemmungen abzubauen, Probleme zu vergessen oder mehr Spaß zu haben. Später suchen sie diese Wirkung gezielt und immer häufiger. Auch die Dosis steigt: Man verträgt mehr. In der sogenannten Vorläufer-Phase der Sucht merkt der Betroffene, dass er mehr trinkt als andere Menschen, und versucht das zu verbergen. Seine Ausreden und Vertuschungsversuche werden immer abstruser. Manchmal kommt es zu Gedächtnislücken nach dem Alkoholkonsum. Die Grenze zur Sucht ist überschritten, wenn der Betroffene es nach dem ersten Schluck Alkohol nicht mehr unter Kontrolle hat, wie viel er trinkt. Oft kommt es bereits zu ersten Veränderungen der Persönlichkeit und zu Konflikten mit Freunden und der Familie; andere Interessen treten in den Hintergrund. In der letzten, der chronischen Phase beherrscht der Alkohol den Trinker vollkommen: Der letzte Rest Selbstachtung, Rechtsbewusstsein und Anstand bleibt in den immer länger anhaltenden Vollräuschen auf der Strecke.
Substanz-Vielfalt
Einem ähnlichen Verlauf folgen auch andere Abhängigkeitserkrankungen. Während sich der Weg in die Sucht beim Alkohol oft über Jahre hinzieht, geht es bei anderen Substanzen, beispielsweise Heroin, viel schneller. Der Stoff, auf den sich die Sucht konzentriert, kann ganz unterschiedlicher Art sein: legale Drogen wie Alkohol und Nicotin oder illegale wie Ecstasy, Kokain oder Heroin. In den vergangenen Jahren vermehrt auf den deutschen Markt geschwemmt wurden auch sogenannte Legal Highs oder Designerdrogen. Diese synthetischen Cannabinoide tragen oft harmlos klingende Namen wie »Kräutermischung« oder »Badesalz«, können aber zu schweren Vergiftungserscheinungen führen. Seit Ende letzten Jahres ist deshalb auch der Umgang mit solchen neuen psychoaktiven Substanzen verboten. Von einer nicht stoffgebundenen Abhängigkeit sprechen Fachleute beispielsweise bei pathologischem Glücksspielverhalten, Internetsucht oder Essstörungen wie Bulimie.
Schlaf- und Schmerzmittel
Oft unterschätzt wird, dass auch viele Medikamente abhängig machen können: Nach Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) besitzen etwa 5 Prozent aller häufig verordneten Arzneimittel ein eigenes Suchtpotenzial. Dazu zählen vor allem psychotrope Pharmaka wie Benzodiazepine und Barbiturate, zentral wirksame Analgetika (Opiate), codeinhaltige Arzneimittel und Amphetamine. Mindestens ein Drittel dieser Verordnungen werden nicht mehr wegen eines akuten medizinischen Problems ausgestellt, sondern zur Vermeidung von Entzugserscheinungen, schätzt die DHS.
Benzodiazepine
Non-Benzodiazepin-Hypnotika (Z-Drugs, zum Beispiel Zopiclon, Zolpidem)
Opiate/Opioide
Amphetamine und amphetaminartige Substanzen, Appetitzügler
Bei den meisten OTC-Präparaten wie nicht steroidalen Analgetika (NSAR) und anderen Schmerzmitteln besteht in der Regel keine Gefahr, süchtig zu werden, erklärt Kramer. »Durch einen Missbrauch kann es zwar zum medikamenteninduzierten Kopfschmerz kommen. Die klassischen Entzugssymptome und ein Kontrollverlust treten aber nicht auf.« Auch bei einer übermäßigen Verwendung von abschwellenden Nasensprays, Laxanzien oder Antihistaminika, die zu körperlichen Gegenregulationsmechanismen führen kann, sprechen Mediziner nicht von einer Sucht, sondern von Missbrauch.
Das Problem bei einer Medikamentenabhängigkeit: Die meisten Betroffenen ziehen gar nicht in Betracht, dass sie süchtig sein könnten. Sie bekommen die Arzneimittel schließlich verordnet, weil sie ein medizinisches Problem haben. »Das verselbständigt sich dann«, erklärt der Spezialist für die Behandlung von Suchterkrankungen. Die Betroffenen seien oft sehr findig, wechseln zum Beispiel häufig den Arzt oder besorgen sich ihre Medikamente illegal im Internet. PTA und Apotheker sollten deshalb hellhörig werden, wenn Patienten mit Rezepten verschiedener Ärzte für potenziell suchtauslösende Medikamente kommen.
Besonders gefährdet
Zwei Drittel der Arzneimittelabhängigen sind Frauen über 65 Jahre. Etwa 70 Prozent entfallen auf die Gruppe der Benzodiazepine und verwandte Wirkstoffe, die aufgrund von Schlafstörungen verschrieben werden. »Besteht der Verdacht auf eine Abhängigkeit, kann man dem Patienten empfehlen, sich an eine Suchthilfestelle zu wenden oder sich zumindest selbst einmal kritisch zu beobachten«, rät Kramer. Wichtig ist dabei eine offene, wertschätzende Gesprächsatmosphäre; Vorwürfe oder gar eine Diagnose sind fehl am Platz.
Das Gleiche gilt für jeden, der bei sich selbst oder einer nahestehenden Person Zeichen für einen fragwürdigen Umgang mit Suchtmitteln entdeckt: Sei es, dass er oder sie zu viel trinkt, sich regelmäßig dem Glücksspiel hingibt oder Partydrogen konsumiert. »In jeder größeren Stadt gibt es Beratungsstellen, wo man in einem informellen Gespräch herausfinden kann, ob eine Therapie notwendig ist und wenn ja, welche«, erklärt Kramer. Ein ernstzunehmender Hinweis auf eine Sucht besteht spätestens dann, wenn es dem Betroffenen nicht mehr gelingt, seinen Konsum freiwillig zu beschränken. Selbsttests können helfen, den eigenen Umgang speziell mit Alkohol kritisch zu beleuchten (siehe Kasten).
1 Haben Sie jemals daran gedacht, weniger zu trinken? (Cut down drinking)
2 Haben Sie sich schon mal über Kritik an Ihrem Trinkverhalten geärgert? (Annoying)
3 Haben Sie sich jemals wegen Ihres Trinkens schuldig gefühlt? (Guilty)
4 Haben Sie jemals morgens zuerst Alkohol getrunken, um den Start in den Tag zu erleichtern? (Eye opener)
Entzug und Entwöhnung
Sich einzugestehen, dass man Hilfe braucht, ist der erste Schritt aus der Abhängigkeit. Der zweite ist die Entgiftung. Weil der Körper bei Alkohol-, Medikamenten- und Drogensüchtigen auf den Entzug mit heftigen, manchmal gar lebensbedrohlichen Symptomen reagiert, findet diese Phase meist in einer Akutklinik statt. Je nach Art der Abhängigkeit dauert sie wenige Tage bis mehrere Wochen. Die Kosten trägt bei einer entsprechenden Indikation die Krankenkasse.
Die eigentliche Therapie beginnt aber erst danach, betont der Suchtexperte. »Wir wissen, dass ohne zusätzliche Unterstützung nur etwa 5 Prozent der Patienten nach dem Entzug dauerhaft abstinent bleiben.« Die Entwöhnungsbehandlung dauert mehrere Wochen bis Monate und kann in einer Fachambulanz, teilstationär in einer Tagesklinik oder stationär in einer Fachklinik erfolgen. Der Betroffene lernt in der Reha, gesundheitsschädigende Angewohnheiten zu verändern und auch bei Konflikten oder in Stresssituationen nicht in das alte Verhaltensmuster zu verfallen. Folge- und Begleiterkrankungen der Sucht werden ebenfalls behandelt. Oft leiden Suchtkranke etwa an Depressionen oder Angststörungen, so Kramer. Ziel der medizinischen Rehabilitation ist es, den Patienten wieder ins gesellschaftliche Leben einzugliedern und die Erwerbsfähigkeit zu sichern. Die Kosten hierfür übernimmt in der Regel die Rentenversicherung oder die Sozialhilfe.
Soziales Umfeld
Welche Form der Reha am sinnvollsten ist und wie lange sie dauert, richtet sich vor allem nach den persönlichen Umständen des Suchtkranken: Ist er oder sie gut sozial integriert, hat einen Arbeitsplatz, familiäre Unterstützung und keine schweren Begleiterkrankungen, so verspricht auch eine ambulante Behandlung oder eine Kurzzeittherapie in einer Klinik Erfolg. Fehlt dieser gesellschaftliche Halt oder trägt das Umfeld gar zum Suchtmittelkonsum bei, rät Kramer zu einer stationären Therapie. Für Opiat- und Heroinabhängige, die aufgrund ihres Drogenkonsums oft schon in die Illegalität abgerutscht sind, gibt es spezialisierte Einrichtungen. In manchen Fällen kann ihnen auch eine Substitutionstherapie mit Methadon oder Buprenorphin helfen.
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Als unterstützende Maßnahme zur Therapie einer Alkoholabhängigkeit setzen Ärzte gelegentlich auch sogenannte Anti-Craving-Substanzen wie Baclofen, Naltrexon, Nalmefen oder Acramposat ein. Sie vermindern das psychische Verlangen nach Alkohol und sollen so die Entwöhnung erleichtern. »Bei einem kleinen Prozentsatz der Patienten hilft das«, so die Einschätzung von Kramer. »Allerdings ist die Studienlage hierzu noch sehr dürftig.« Sinnvoll könne der Einsatz von Anti-Craving-Substanzen aber als Übergangslösung sein, wenn ein Alkoholiker nach dem Entzug nicht sofort eine Langzeittherapie antreten kann.
Rückfallgefahr
Bei fast allen Abhängigkeitserkrankungen gilt: Das Gehirn erinnert sich ein Leben lang an die angenehme Wirkung früher konsumierter Suchtstoffe. Auch nach einer erfolgreichen Entwöhnung besteht deshalb immer die Gefahr eines Rückfalls – besonders während einer persönlichen Krise oder in Situationen, die in Zusammenhang mit dem Suchtmittelkonsum stehen. Der regelmäßige Besuch einer regionalen Selbsthilfegruppe kann den Betroffenen den Rücken stärken und die Chance für eine dauerhafte Abstinenz erhöhen. /
Suchtberatungsstellen unter:
www.suchtmittel.de/seite/interaktiv/suchtberatung oder www.suchthilfeverzeichnis.de
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