Die Abwehrkräfte kommen in die Jahre |
12.10.2015 10:57 Uhr |
Von Clara Wildenrath / Mit zunehmendem Lebensalter nehmen nicht nur Muskelmasse und Beweglichkeit ab – auch das Immunsystem verliert an Leistungskraft. Immunseneszenz nennen Mediziner dieses Phänomen. Die Folge ist eine erhöhte Neigung zu Infektionen, Krankheiten wie Diabetes oder Alzheimer und Krebs.
Etwa ein Sechstel aller Todesfälle bei Über-65-Jährigen geht auf eine Grippe oder Lungenentzündung zurück. Weil das Immunsystem Krankheitserreger im Alter nicht mehr so effektiv bekämpfen kann wie in jungen Jahren, sind Senioren anfälliger für Infektionskrankheiten. Eine Ursache dafür ist die Rückbildung der Thymusdrüse. In dem Organ, das beim Menschen hinter dem Brustbein oberhalb des Herzens sitzt, reifen die Vorläufer der weißen Blutkörperchen zu T-Lymphozyten heran. Dabei lernen sie, körperfremde Zellen von eigenen zu unterscheiden. So können sie virusinfizierte Zellen oder Tumorzellen erkennen und bekämpfen, die gesunden Körperzellen aber unversehrt lassen.
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Nach dem Erreichen der Geschlechtsreife beginnt die Thymusdrüse jedoch zu schrumpfen. Diesen Vorgang nennen Mediziner Involution. Bereits im mittleren Erwachsenenalter enthält der Thymus kaum noch funktionell aktives Gewebe. Die Folge: Es entstehen immer weniger naive T-Zellen, die auf unbekannte Eindringlinge reagieren können. Die sogenannten Memory-T-Zellen bleiben aber erhalten. Sie sind Teil des immunologischen Gedächtnisses, das sich an bereits durchgemachte Infektionen erinnert und für deren schnelle Bekämpfung sorgt. Das geht auch im fortgeschrittenen Alter nicht verloren.
Die Zahl der Stammzellen im Knochenmark, aus denen neue Immunzellen gebildet werden können, nimmt ebenfalls ab. Dadurch entstehen im Laufe der Jahre weniger neue B-Zellen, die spezifische Antikörper gegen Krankheitserreger produzieren. Zwar steigt gleichzeitig deren Lebensdauer, wodurch ihre Zahl insgesamt etwa gleich bleibt. Ihre Fähigkeit, sich zu vermehren und Infektionen effektiv zu bekämpfen, sinkt jedoch. Auch die Milz, in der die B-Zellen für die Abwehr von Fremdstoffen geprägt werden, ist nicht mehr so aktiv wie in jungen Jahren.
Gestörte Übermittlung
Ähnliche qualitative und quantitative Einbußen betreffen viele andere Bestandteile des zellulären Abwehrsystems, etwa die Makrophagen, also Fresszellen, die Mikroorganismen in sich aufnehmen und abtöten. Dazu kommt, dass das Zusammenspiel der einzelnen Komponenten weniger gut funktioniert. Normalerweise schütten Immunzellen, die einen fremden Eindringling erkannt haben, eine Vielzahl von Botenstoffen aus, die wiederum eine ganze Kompanie anderer Abwehrzellen und Botenstoffe auf den Plan rufen. Mit zunehmendem Alter sinkt sowohl die Produktion dieser Signalstoffe als auch die Fähigkeit der Zellen, darauf zu reagieren.
Im Gegenzug gewinnen andere, unspezifischere Komponenten des Abwehrsystems an Macht. So setzen alternde Immunzellen offensichtlich mehr entzündungsfördernde Botenstoffe frei. Dieses Phänomen bezeichnen Wissenschaftler als Inflammaging oder Entzündungsaltern. Die Folge sind chronische Entzündungsprozesse im Körper. Sie spielen bei der Entstehung zahlreicher Alterserkrankungen eine Rolle – etwa bei Arteriosklerose, Osteoporose, Rheuma, Diabetes und Alzheimer.
Auch die Bildung von Antikörpern, die sich gegen körpereigenes Gewebe richten, steigt im Alter an. Eine Zunahme von Autoimmunerkrankungen bei älteren Menschen beobachten Mediziner allerdings nicht. Möglicherweise wirken die Autoantikörper – ähnlich wie viele andere Komponenten des Immunsystems – nicht mehr so aggressiv wie in jüngeren Jahren.
Weniger effektiv
Die Folgen der Immunseneszenz sind weitreichend. Zum einen steigt die Anfälligkeit gegenüber Infektionen. Weil das Immunsystem mit den Erregern nicht fertig wird, nimmt zum Beispiel eine Grippe oft einen schwereren Verlauf als in jungen Jahren. Deswegen würden Senioren besonders von Impfungen profitieren. Leider bedingt die nachlassende Immunkompetenz aber auch, dass Impfungen im Alter nicht mehr so gut wirken. Studien zeigen, dass beispielsweise die Grippeimpfung bei jüngeren Menschen einen 70- bis 90-prozentigen Schutz bietet, während der Wert bei Über-65-Jährigen auf 50 bis 60 Prozent sinkt.
Der Rückgang der Abwehrkräfte kann auch dazu führen, dass latent im Körper vorhandene Infektionen neu aufflammen – etwa eine Gürtelrose, die vom Varizella-zoster-Virus ausgelöst wird. Durch die Immunseneszenz kommt es außerdem zu einem Symptomwandel im Alter. So fehlt selbst bei schweren Infekten häufig Fieber. Stattdessen stehen zunehmend unspezifische Krankheitszeichen wie Verwirrtheit, Appetitmangel oder Schwächegefühl im Vordergrund. Das erschwert und verzögert oft die Diagnose.
Sportliches Training verbessert neben gesunder Ernährung und Stressvermeidung die Abwehrkräfte.
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Bekannt ist zudem, dass ältere Menschen häufiger an Krebs leiden. Meist wachsen die Tumoren schneller und breiten sich aggressiver aus als bei Jüngeren. Das führen Experten ebenfalls darauf zurück, dass das alternde Immunsystem entartete Zellen nicht mehr so gut erkennen und vernichten kann.
Ein positiver Effekt der Immunseneszenz zeigt sich dagegen bei Organtransplantationen: Ältere Empfänger entwickeln meist weniger ausgeprägte Abstoßungsreaktionen gegen das fremde Organ. Auch die Überlebensraten und die Transplantatfunktion nach einer Nierenverpflanzung sind bei Senioren oft besser. Manche immunsuppressiven Medikamente zeigen bei Älteren zudem eine bessere Wirksamkeit.
Geschwächte Abwehr
Verschärft wird der altersbedingte Rückgang der Immunkompetenz durch eine schlechte Nährstoffversorgung. Oft ernähren sich Senioren einseitig: Sie nehmen zu viele Kalorien, aber zu wenig Proteine, Vitamine und Mineralien zu sich. Dazu kommt, dass das Verdauungssystem nicht mehr so gut arbeitet. Die Säureproduktion lässt nach, die Magenschleimhaut verändert sich und die Menge an Verdauungsenzymen geht zurück. Das führt dazu, dass viele Nährstoffe schlechter aufgenommen werden können. Besonders ein Eiweißmangel zieht zahlreiche Komponenten des Immunsystems in Mitleidenschaft, etwa die Reifung von T-Zellen und die Freisetzung von Antikörpern und Signalstoffen. Wie Studien belegen, kann die gezielte Zufuhr bestimmter Aminosäuren, zum Beispiel von Arginin, Glutamin und Tryptophan, den Immunstatus verbessern. Auch der Zink-Spiegel im Blut hat Einfluss auf die Zahl und Aktivität der T-Zellen.
Freie Radikale scheinen bei der Alterung des Immunsystems ebenfalls eine Rolle zu spielen. Diese hochreaktiven Moleküle entstehen als Nebenprodukt bei fast allen Stoffwechselvorgängen im menschlichen Körper und schädigen die Zellstrukturen durch Oxidation. Antioxidanzien helfen dem Organismus, die Angreifer unschädlich zu machen. Mit zunehmendem Alter steigt jedoch die Produktion freier Radikale, während gleichzeitig weniger antioxidativ wirksame Stoffe aus der Nahrung zur Verfügung stehen. Die Folge ist oxidativer Stress, der das Immunsystem schwächt und Entzündungsprozesse fördert. Ob allerdings die Einnahme von Antioxidanzien wie Vitamin A und C oder Selen der Immunseneszenz tatsächlich entgegenwirken kann, ist bislang unklar. Auch chronischer Stress verstärkt den Alterungsprozess des Immunsystems. Das kann bereits in jungen Jahren der Immunseneszenz Vorschub leisten.
Mehr Bewegung
Um das Immunsystem auch im Alter fit zu halten, empfehlen Mediziner, auf eine gesunde Ernährung zu achten, nicht zu rauchen und Stress zu vermeiden. Nachgewiesen ist auch, dass regelmäßiges sportliches Training die Abwehrkräfte verbessert und die Immenseneszenz verlangsamen kann. Spitzenbelastungen und Leistungssport schwächen das Immunsystem dagegen.
Selbst wenn Impfungen im Alter nicht mehr so wirksam sind wie bei jungen Menschen, vermindern sie dennoch die Erkrankungshäufigkeit und -schwere sowie die Sterblichkeit – das belegen Studien. Deshalb empfiehlt die Ständige Impfkommission am Robert-Koch-Institut (STIKO) für Personen ab 60 Jahren auch die jährliche Influenzaimpfung sowie eine Pneumokokken-Schutzimpfung. Tatsächlich lässt sich jedoch nicht einmal die Hälfte der Senioren gegen Grippe impfen. Gründe für die geringe Impfbereitschaft sind mitunter unrealistische und deshalb oft enttäuschte Erwartungen an die Effektivität: Viele Menschen denken, dass die Impfung auch grippale Infekte verhindert – und interpretieren jede Erkältung als Impfversagen. Zudem hängt die Wirksamkeit auch von der Übereinstimmung der verwendeten Impfantigene mit den jeweils aktuell kursierenden Virustypen ab.
Auf jeden Fall bietet aber die regelmäßige Grippeimpfung einen erheblich besseren Impfschutz gegen die potenziell lebensbedrohliche Erkrankung als eine einmalige Immunisierung. Als stärker immunogen und deshalb besonders für ältere Patienten empfehlenswert gelten intradermale, wirkverstärkte Impfstoffe, deren Kosten die Krankenkassen aber in der Regel nicht übernehmen.
Seit 2013 ist auch eine Impfung gegen Varizella zoster für Menschen über 50 verfügbar. Sie reduzierte in Studien die Häufigkeit der Gürtelrose um etwa die Hälfte. Kommt es trotzdem zu einer Erkrankung, verläuft sie in der Regel milder und führt seltener zu langwierigen Nervenschmerzen (Post-zoster-Neuralgie). Derzeit hat die STIKO allerdings noch keine Empfehlung für die Zosterimpfung älterer Menschen in den Impfkalender aufgenommen.
Um die Effektivität der Impfungen zu steigern, sollten ältere Menschen besonders auf eine gute Nährstoffversorgung achten, raten Experten. Wichtig für das Immunsystem sind insbesondere die Vitamine A, B6, B12, C, D, E, Folsäure sowie Spurenelemente wie Zink, Selen und Kupfer. Unter Umständen kann es auch helfen, vor einem Impftermin Mikronährstoffe und Antioxidanzien gezielt zu supplementieren. /