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Vergiftungen bei Kindern

Gefährliche Neugier

13.04.2015  12:25 Uhr

Von Clara Wildenrath / Kleine Kinder stecken vieles in den Mund. Bunte Spülmaschinentabs, duftende Reinigungsmittel oder lecker aussehende Beeren im Garten – doch so manches, was ihre Neugier weckt, ist giftig und kann gefährlich werden.

Kinder gehen gerne auf Entdeckungsreise. Und sie probieren gerne alles. Wie schmeckt wohl der blaue Saft am Geschirrspülbecken? Oder die verschiedenen Früchte und Blätter im Garten? Schnell kann ihnen ihr Forscherdrang jedoch zum Verhängnis werden.

Rund 100000 Menschen rufen jedes Jahr bei einer der neun Giftnotrufzentralen in Deutschland an, weil sie befürchten, dass sich ein Kind vergiftet haben könnte. In knapp 20000 Fällen bestätigt sich der Verdacht. Am stärksten gefährdet sind Kleinkinder im Alter von ein bis drei Jahren. Sie erkunden ihre Umwelt, indem sie sie ertasten und erschmecken. Erst später lernen sie, Lebensmittel und Gefahrstoffe zu unterscheiden.

»Die häufigsten Anfragen bekommen wir – gerade in den Sommermonaten – zu Beeren, die von kleinen Kindern gegessen wurden«, berichtet Professor Dr. Florian Eyer, ärztlicher Leiter der Abteilung Klinische Toxikologie des Klinikums rechts der Isar der TU München und des Giftnotrufs München. Giftig sind zum Beispiel die Beeren von Liguster, Efeu, Faulbaum, Heckenkirsche oder Kirschlorbeer sowie die Schoten des Goldregens. »Aber meistens haben die einen unangenehmen Geschmack«, so Eyer. »Deshalb essen Kinder selten größere Mengen.« Bei ein bis drei Beeren drohen nach Eyers Erfahrung in der Regel nur leichte Magen-Darm-Beschwerden oder Schleimhautreizungen. Wie so häufig in der Pharmakologie gilt auch hier: Die Dosis macht das Gift. Andere Beeren, zum Beispiel die der Eibe, wirken nur toxisch, wenn die Samen zerbissen werden – was Kinder selten machen. Gefährlicher sind dagegen die Nadeln der Eibe.

Schön, aber hochgiftig

Zu den giftigsten Pflanzen in Europa zählt der Eisenhut. Das hochwirksame Alkaloid Aconitin ist in allen Pflanzenteilen enthalten, vor allem aber im Wurzelstock. Bereits wenige Gramm der Pflanze reichen aus, um einen Menschen zu töten. Das Gift kann schon beim Pflücken durch die Haut eindringen. Eine Vergiftung äußert sich durch Kribbeln, Taubheitsgefühle, Lähmungen und therapeutisch nicht zu beeinflussende Herzrhythmusstörungen. Unbeabsichtigte Intoxikationen von Kindern kommen nach der Erfahrung von Florian Eyer aber zum Glück selten vor. Eher sind sie bei Erwachsenen Folge eines Selbstmordversuchs.

Zufällig im Magen landet dagegen gelegentlich die Herbstzeitlose. »Ihre Blätter erscheinen synchron mit dem Bärlauch, häufig auch am gleichen Standort«, erklärt Professor Eyer. Das führt bei Sammlern immer wieder zu Verwechslungen. Diese sind deutlich gefährlicher als die mit dem Maiglöckchen, vor denen häufig gewarnt wird. Gegen das Herbstzeitlosen-Alkaloid Colchicin gibt es keine Therapie. Vergiftungssymptome wie blutiger Durchfall und Herzrhythmusstörungen können nur symptomatisch behandelt werden.

Kinder auf Entdeckertour probieren gerne auch Pilze, die mancherorts auf der Wiese sprießen. Hier ist es wichtig, den Pilz zu identifizieren: Lamellen- oder Röhrenpilz, welche Farbe haben Fuß und Schirm? »In Zweifelsfällen vermitteln wir auch einen Pilzfachberater in der Nähe«, so Eyer. Gefährlich ist vor allem der Knollen­blätterpilz: Schon weniger als ein ganzes Exemplar kann für Kinder tödlich sein. Das enthaltene Amatoxin führt zu schweren Brechdurchfällen und letztendlich zum Leber- und Nierenversagen.

Verhalten im Ernstfall

Hat ein Kind verdächtige Pilze, Beeren oder Blätter erwischt, zeigt aber noch keine Symptome, so hilft ein Telefonat mit der Giftnotrufzentrale: Die Experten können das Gesundheitsrisiko meist schnell abschätzen. Am leichtesten ist das für sie, wenn der Anrufer den Namen der Pflanze kennt oder sie möglichst genau beschreiben kann. Für jede Art von Vergiftung gilt: Als erstes sollten die Eltern eventuelle Reste aus dem Mund des Kindes entfernen. Tee, stilles Wasser oder Saft in kleinen Schlucken hilft, die Giftstoffe im Magen zu verdünnen. Auf keinen Fall soll das Kind Milch trinken – das kann die Aufnahme der Toxine noch beschleunigen. Erbrechen provozieren darf höchstens der Arzt: Zu groß ist die Gefahr, dass dabei schädliche Substanzen in die Lunge geraten.

Erste Hilfe bei Vergiftungen

  • Eventuelle Reste aus dem Mund entfernen
  • Dem Betroffenen Tee, Wasser oder Saft zu trinken geben (keine Milch!)
  • Nach Augen- oder Hautkontakt mit viel Wasser spülen
  • Auf keinen Fall Erbrechen auslösen!
  • Ruhe bewahren!
  • Nach Absprache mit der Giftnotrufzentrale eventuell medizinische Kohle oder Entschäumer geben
  • Giftnotrufzentrale anrufen: Wichtig sind folgende Angaben: Wer (Alter, Körpergewicht) hat was (Name des Produkts oder der Pflanze) wann und in welcher Menge eingenommen? Wie geht es dem Betroffenen? Wer ruft an? Name und Telefonnummer für eventuellen Rückruf

Notrufnummern

Bei schweren Symptomen (Atemnot, Bewusstlosigkeit): Notruf 112

Giftnotrufzentralen:

Berlin: 030 19240, Bonn: 0228 19240, Erfurt: 0361 730730, Freiburg: 0761 19240,
Göttingen: 0551 19240, Homburg/Saar: 06841 19240, Mainz: 06131 19240,
München: 089 19240, Nürnberg: 0911 3982451

Hilfreich ist es, wenn in der Hausapotheke medizinische Kohle vorrätig ist. Durch ihre große Oberfläche kann sie viele Giftstoffe binden – umso wirkungsvoller, je früher sie verabreicht wird. Trotzdem sollte man sie nur nach Absprache mit der Giftnotrufzentrale einsetzen, da sie in manchen Fällen später notwendige Untersuchungen erschweren kann. Professor Eyers Tipp für den Notfall: »Medizinalkohle als Pulver oder Granulat ist besser als Kompretten, weil man damit leichter eine Suspension herstellt.« Damit das Kind das schwarze »Gebräu« trinkt, kann es helfen, die Kohle in Cola zu geben oder ein buntes Plastikgefäß mit Trinkdeckel zu verwenden.

Die meisten Vergiftungsunfälle im Garten können Eltern verhindern, wenn sie Giftpflanzen kennen (siehe Liste) und soweit möglich – insbesondere wenn sie attraktive Beeren haben – aus dem Aktionsradius von Kleinkindern verbannen. Pilze auf dem Rasen oder in versteckten Winkeln sollten sie regelmäßig entfernen. Etwas ältere Kinder müssen lernen, welche Pflanzen gefährlich sein können. Potenziell giftig sind auch einige beliebte Zimmerpflanzen, zum Beispiel Birkenfeige, Gummibaum, Dieffenbachie oder Weihnachtsstern.

Giftpflanzen in Haus und Garten

Aronstab ++
Bilsenkraut +++
Dieffenbachie ++
Efeu ++
Engelstrompete +++
Eibe +++
Eisenhut +++ (!)
Faulbaum ++
Feuerbohne ++
Fingerhut ++
Gifthahnenfuß ++
Goldregen ++ 
Herbstzeitlose +++ (!)
Herkuleskraut ++
Kaiserkrone ++
Kirschlorbeer ++
Korallenkirsche ++
Maiglöckchen ++
Nachtschatten, Bittersüßer++
Oleander ++
Pfaffenhütchen ++
Rizinus/Christuspalme +++ (!)
Sadebaum ++
Schierling, Gefleckter +++
Seidelbast +++
Stechapfel +++
Stechpalme/Ilex ++
Tabak-Arten +++
Tollkirsche +++
Wandelröschen +++
Wasserschierling +++ (!)
Zaunrübe, Rote ++
Zypressenwolfsmilch ++

++ mittelstark giftig

+++ sehr giftig

(!) kann zu lebensbedrohlichen Vergiftungen führen

(nach: BfR-Verbraucherinfo Risiko Pflanze – Einschätzung und Hinweise, 2005)

Auf die chemische Keule verzichten

Ein weitaus größeres Risiko als die meisten Pflanzen bergen aber Pflanzenschutzmittel, die im Gartenhäuschen oder in der Garage lagern. Insbesondere konzentrierte Insektizide, die zur Herstellung einer verdünnten Gebrauchslösung gegen Schädlingsbefall dienen, sind meist hochgiftig. Ratten- oder Wühlmausgifte können für Kinder lebensbedrohlich sein. Auch Schneckenkorn mit dem Wirkstoff Metaldehyd führt zu schweren Vergiftungserscheinungen, wenn das Kind mehr als ein paar Körnchen isst. Weniger gefährlich sind neuere Produkte mit Eisen(III)-sulfat. Alarmzeichen für eine ernstzunehmende Vergiftung sind Speichelfluss, Benommenheit, Übelkeit und Erbrechen. Dann sollten die Eltern oder Betreuer sofort den Rettungsdienst rufen oder in die Kinderklinik fahren. Für die Risikobeurteilung und eventuelle Gabe eines Gegenmittels ist es wichtig, die Originalverpackung oder das Etikett mitzunehmen. Vermeiden können die Eltern solche Notfälle, indem sie generell auf giftige Pflanzenschutzmittel verzichten. Oft gibt es kinder- und umweltfreundlichere Alternativen, zum Beispiel Schmierseifenlösung oder Brennnesselsud.

Gerade im Frühjahr und Sommer erleben die Experten in den Vergiftungszentralen auch immer wieder, dass Kinder flüssige Grillanzünder trinken: Wenn das Feuer endlich brennt, bleibt die Flasche mit dem Anzünder oft unbeachtet stehen. Ebenso gefährlich ist Lampenöl in Gartenfackeln oder Zierlampen. Beide enthalten oft dünnflüssige Paraffine, die schon in kleinen Mengen zu Hustenanfällen und Atemnot führen können. Das Risiko, dass das Kind etwas von dem Giftstoff in die Lunge bekommt, ist sehr groß. Wer statt flüssigem festen Anzünder zum Grillen verwendet und nur kindersichere Öllampen und paraffinfreie Lampenöle kauft, kann das verhindern.

Reiniger und Waschmittel wegsperren

Noch mehr bunte, verlockend aussehende Säfte finden Kleinkinder – meist allzu leicht zugänglich – in jedem Haushalt: Spülmittel, diverse Reiniger, Shampoo, Flüssigwaschmittel oder Weichspüler. Viele wirken nicht in erster Linie giftig, sondern gefährden vielmehr die Atemwege aufgrund ihrer starken Schaumbildung. Die Experten der Giftnotrufzentralen empfehlen in diesen Fällen oft die Gabe eines Entschäumers (zum Beispiel Dimeticon). Ein Tipp von Toxikologe Eyer: »Wenn man keinen Entschäumer zu Hause hat, hilft zur Not auch ein Butterbrot – das kann die Oberflächenspannung ebenfalls verringern.« Auf keinen Fall darf Erbrechen ausgelöst werden, da dabei Schaum in die Lunge gelangen kann. Anders als bei anderen Vergiftungen sollte das Kind besser nur wenig Flüssigkeit zu sich nehmen, um die Schaummenge nicht zu erhöhen.

Gefährlicher als die meisten Allzweckreiniger und Waschmittel sind Haushaltschemikalien, die ätzende Substanzen oder konzentrierte Säuren enthalten: zum Beispiel viele WC-Reiniger, Entkalker oder Abflussreiniger. Sie können die Mundschleimhaut und die Speiseröhre schädigen. Typische Anzeichen hierfür sind Schmerzen, Speichelfluss und geschwollene, gerötete Lippen und Schleimhäute. Bei diesen Symptomen muss das Kind sofort zum Arzt. Noch mehr als bei anderen Vergiftungen gilt hier: Auf keinen Fall Erbrechen herbeiführen! Das würde die Speiseröhre ein weiteres Mal verätzen. Hilfreich ist dagegen viel zu trinken, um Säuren oder Laugen zu verdünnen.

Um ihr Kind vor einer Vergiftung mit Haushaltschemikalien zu schützen, können Eltern schon beim Einkauf viel tun: Produkte mit Warnsymbolen für eine Gesundheitsgefährdung meiden, auf kindersichere Verschlüsse achten und Reinigungsmittel mit zugesetzten Bitterstoffen (zum Beispiel Denatoniumbenzoat = Bitrex®) bevorzugen, die ein Kind nach dem ersten Schluck sofort wieder ausspucken würde. Außerdem sollten Putzmittel stets in verschließbaren Schränken aufbewahrt und keinesfalls in Getränkeflaschen oder Lebensmittelbehälter umgefüllt werden.

Keine Zigaretten liegenlassen

Erwachsene sollten auch daran denken, dass manches, was für sie selbst mit Genuss verbunden ist, für den Nachwuchs gefährlich werden kann. So manches Kleinkind musste mit einer Alkoholvergiftung dafür büßen, dass es die Reste in herumstehenden Gläsern nach einer Party probieren wollte.

Eine Nicotinvergiftung droht, wenn ein kleines Kind mehr als eine halbe Zigarette verschluckt. Noch gefährlicher ist Tabaksud, zum Beispiel aus Aschenbechern auf dem Balkon oder aus halbleeren Getränkedosen, in die Zigarettenkippen entsorgt wurden. Nicotinkaugummis oder -pflaster, die Kinder in den Mund nehmen, können ebenfalls bedrohliche Beschwerden verursachen.

Häufig verschlucken kleine Kinder auch Knopfzellen oder andere Batterien. In der Regel scheiden sie diese ohne Beschwerden wieder aus. Nur wenn sie über 24 Stunden im Magen bleiben, können freiwerdende ätzende Inhaltsstoffe die Magenschleimhaut schädigen, warnt das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR). Von enthaltenem Quecksilber geht dagegen aufgrund der geringen Menge keine Gefahr aus. Trotzdem empfiehlt das BfR eine Röntgenaufnahme, um den Verbleib der Batterie zu klären.

BfR-App »Vergiftungs­unfälle bei Kindern«

Die App enthält Hinweise zu Inhaltsstoffen von chemischen Produkten, Medikamenten, Pflanzen und Pilzen, dem Vergiftungsbild und den Maßnahmen zur Ersten Hilfe. Mit Hilfe der App kann direkt der nächstgelegene Giftnotruf angewählt werden, um im Vergiftungsfall umgehend ärztlichen Rat einzuholen.

Auch im Bad finden neugierige Kleinkinder viele interessante Tuben und Tiegel. Lästig, aber meistens ungefährlich sind ausgelutschte Hautcremes oder Lippenpflegestifte. Sie verursachen höchstens vorübergehendes Unwohlsein. Bei öligen Flüssigkeiten, zum Beispiel Babyöl, besteht die Gefahr des Verschluckens in die Lunge. Kommt es zu Husten oder Atemstörungen, sollte deshalb ein Kinderarzt zu Rate gezogen werden. Auch Zahnpasta kann – wenn das Kind größere Mengen davon verschluckt – zu Vergiftungserscheinungen führen. Entscheidend ist dabei der Fluoridgehalt: Kinderzahnpasta enthält weniger Fluorid und macht allenfalls Bauchschmerzen, eine ganze Tube Erwachsenenzahnpasta oder Fluoridgelee kann dagegen ernsthafte Herz-Kreislauf-Beschwerden und starke Magenschmerzen verursachen. Als Erste-Hilfe-Maßnahme empfiehlt das BfR in diesem Fall – aber nur in diesem! – dem Kind ein Glas Milch zu trinken zu geben: Das enthaltene Calcium hemmt die Aufnahme des Fluorids.

Meistens glimpflich

Obwohl neugierige Kleinkinder in fast jedem Haushalt zahlreiche potenzielle Gefahrenstoffe finden, können die Experten der Giftnotrufzentralen die besorgten Anrufer in den meisten Fällen beruhigen: Kleine Mengen sind selten ernsthaft gesundheitsgefährdend. »Gott sei Dank nehmen nur etwa 1 bis 5 Prozent aller Vergiftungsfälle einen schweren Verlauf«, weiß Florian Eyer. Auch die wären mit etwas mehr Umsicht aber oft vermeidbar. /