Mikrobiom zwischen Hype und Hypothesen |
Störungen im fein austarierten Ökosystem sind mit zahlreichen Erkrankungen assoziiert, und zwar nicht nur mit solchen, die den Magen-Darm-Trakt betreffen: neben Clostridium-difficile-Infektionen, Reizdarm, chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen auch Adipositas, Diabetes oder Allergien.
Besonders in den ersten Lebensjahren scheint die enterale Mikrobiota für Störfaktoren sensibel zu sein. Vermutlich entwickeln sich die Enterotypen bezüglich ihrer Diversität bis zum dritten Lebensjahr. Und in dieser Zeit scheint das Zusammenspiel von Immunsystem und Darmbakterien sehr prägend zu sein. Klinische Studien dokumentieren, dass Antibiotika – eine fünftägige Antibiotikaeinnahme dezimiert die Darmflora um 30 Prozent – in den ersten sechs Lebensmonaten mit einem erhöhten Risiko für Allergien, Asthma oder Ekzemen im Kindesalter verbunden ist. Ein ähnlicher Zusammenhang konnte für die Antibiotikaeinnahme im ersten Lebensjahr und der Entwicklung einer entzündlichen Darmerkrankung gezeigt werden, gleiches gilt für Übergewicht und Typ-2-Diabetes. Wer in jungen Jahren häufig oder über einen längeren Zeitraum Antibiotika einnimmt, hat mit über 60 Jahren ein erhöhtes Darmkrebsrisiko.
Die Darmflora scheint zudem nicht unerheblich an der Regulation der physiologischen Darmmotilität beteiligt zu sein. Ob ein verändertes Mikrobiom in der Lage ist, die Darmmotilität zu verändern, oder ob vielmehr eine anders getaktete Motilität die Bakterien-Gemeinschaft zu beeinflussen vermag, ist derzeit nicht geklärt. Tatsache ist, dass motilitätshemmende Medikamente wie Opiate das Gleichgewicht zwischen physiologischem Mikrobiom und pathologischen Keimen stören. Eventuell spielt eine veränderte Gallensäurebildung eine Rolle. Gleiches gilt für peripher wirkende Opiatrezeptoren wie Loperamid. Nicht direkt in die Motilität eingreifende Antidiarrhoika, wie der Enkephalinasehemmer Racecadotril, zeigen diesen Effekt im Tiermodell nicht.
Kann das Darmmikrobiom den Verlauf einer SARS-CoV-2-Infektion beeinflussen? Und wie wirkt sich die Virusinfektion auf die Mikrobenzusammensetzung aus? Diesen Fragen gehen Forscherteams derzeit nach und liefern erste Ergebnisse.
»Es ist nicht das Virus allein, dass über den Schweregrad von Covid-19 entscheidet, sondern auch die Reaktion des Menschen auf die Infektion«, betonte kürzlich Dr. Jan Kehrmann von der Uniklinik Essen beim Kongress für Infektionskrankheiten und Tropenmedizin. »Risikofaktoren für einen schweren Verlauf wie hohes Alter, Diabetes oder Adipositas sind Zustände, die mit Veränderungen im Darmmikrobiom assoziiert sind«, sagte Kehrmann.
Die Veränderung der Mikroben-Gemeinschaft im Darm kann entweder indirekt über systemische Entzündungsreaktionen oder direkt durch Infektion im Darm erfolgen. Bei der Hälfte der Infizierten sei das Coronavirus im Stuhl nachweisbar, betonte der Mediziner. Der ACE2-Rezptor, über den das Virus in die menschlichen Zellen gelangt, werde auch in Darmepithelzellen stark exprimiert. Die Interaktion des Rezeptors mit dem Coronavirus beeinflusse dessen Expression, darüber auch die Aufnahme von Tryptophan in Enterozyten und in der Folge die Produktion und Freisetzung von antimikrobiellen Substanzen, berichtete der Referent. Diese können letztlich die Zusammensetzung des Darmmikrobioms verändern.
»Wir haben starke Unterschiede im Darmmikrobiom gefunden zwischen Patienten, die SARS-CoV-2- positiv beziehungsweise -negativ waren«, sagte Kehrmann. Bei Infizierten war die Artenvielfalt deutlich reduziert. Zudem unterschied sich die Zusammensetzung der Arten: Drei der vier wichtigsten Bakterienphyla unterschieden sich in ihrer relativen Häufigkeit signifikant. Bei SARS-CoV-2-Positiven war insgesamt eine proinflammatorische Signatur zu erkennen, vor allem Proteobakterien und Enterobacteriaceae kamen gehäuft vor. Bei nicht Infizierten waren Bakterien mit antientzündlichen Eigenschaften wie Bifidobakterien häufiger.
Der Einfluss der Mikrobiota auf den Verlauf einer Covid-19-Infektion scheint indes nur marginal zu sein. So konnten die Wissenschaftler zwar bei schwer Erkrankten ausgeprägtere Entzündungsmarker im Blut erkennen, das Darmmikrobiom unterschied sich in den zwei Gruppen aber kaum.