Mikrobiom zwischen Hype und Hypothesen |
Ob Veränderungen im Darmmikrobiom eher Spiegel oder bestimmender Faktor sind, ist nach wie vor ungeklärt. / Foto: Adobe Stock/sdecoret
Ging man in wissenschaftlichen Kreisen lange davon aus, dass der Mensch bis zu zehnmal mehr körperfremde als eigene Zellen mit sich herumträgt, beträgt nach neueren Berechnungen das Verhältnis 1:1. Daran hat vor allem die Darmmikrobiota mit ihren unglaublichen 100 Billionen Bakterien einen wesentlichen Anteil. Eine Studie von 2016 schätzt etwa die Bakterienzahl eines 70 Kilogramm schweren Menschen auf 3,8 x 1013. »Die bakterielle Biomasse im menschlichen Dickdarm ist dagegen viel niedriger als generell angenommen. Statt 2 Kilogramm, wie oft zu lesen, beläuft sie sich nur auf etwa 100 bis 200 g Feuchtgewicht«, informierte Professorin Dr. Hannelore Daniel, Ernährungsphysiologie an der Technischen Universität München, bei der Pressekonferenz »Gesundheitszentrale Darm« der Firma Sanofi-Aventis.
Strukturell gesehen reguliert die Mikrobiota die Barrierefunktion des Darmepithels mit. Die protektive Wirkung ergibt sich vor allem aus der Fähigkeit des Mikrobioms, problematische Keime in Schach zu halten. Wie man heute weiß, trägt die intestinale Darmflora zur Reifung und zum Erhalt des darmassoziierten Immunsystems bei, indem sie diesem gewissermaßen als Trainingspartner dient. Und metabolisch sind die Keime des Verdauungssystems nicht nur an der Verdauung beteiligt, sondern ihre Zusammensetzung wirkt sich beispielsweise unmittelbar auf den Energiestoffwechsel aus. »Ob und inwieweit die Mikrobiotia oder deren Stoffwechselprodukte die Passagezeit der Nahrung im Darm beeinflussen, ist nicht ausreichend untersucht. Dass jedoch jede Veränderung der Transitzeit sowohl die Menge der mit dem Stuhl ausgeschiedenen Bakterienmenge als auch deren Vielfalt verändert, ist belegt.«
Ob sich eine Umstellung der Ernährungsweise in nennenswerter Weise auf die Zusammensetzung der Mikrobenvielfalt auswirkt, ist nicht sehr gut untersucht. Bemerkenswert ist daher eine kürzlich in »Nature« veröffentlichte Studie von Wissenschaftlern der Universitätsmedizin Berlin und der University of California in San Francisco. Demnach kann eine stark kalorienreduzierte Diät die Zusammensetzung der Mikroorganismen im menschlichen Darm verändern und so den Energiehaushalt des menschlichen Wirtes nachhaltig beeinflussen.
Die regelmäßige Analyse des Stuhls der 60 postmenopausalen übergewichtigen Probandinnen zeigte, dass die verordente Formuladiät die Anzahl der Mikroorganismen im Darm senkte und die Zusammensetzung der Darmflora veränderte. »Wir konnten beobachten, wie die Bakterien ihren Stoffwechsel umstellen, um vermehrt Zuckerverbindungen aufzunehmen, die dem Menschen dann nicht mehr zur Verfügung stehen. Man kann sagen, es entwickelt sich ein hungriges Mikrobiom«, erläutert Erstautor Dr. Reiner Jumpertz von Schwartzenberg die Beobachtungen laut einer Pressemitteilung der Charité.
Insgesamt gesehen bezeichnete Daniel die Einflüsse der Ernährungsweise auf das Mikrobiom und seine Diversität aber erstaunlich gering. Sie erstreckten sich auf Veränderungen einiger weniger Spezies unter jeweils mehreren hundert verschiedenen im Darm. »Probiotische Zubereitungen, ob Joghurt oder Kapsel, zeigen letztlich nur minimale Wirkungen auf die Vielfalt der Bakterien und deren biologische Aktivität. Selbst in Studien mit etablierten präbiotischen Ballaststoffen wie Inulin oder Oligofructose, von denen man eigentlich weiß, dass sie sich auf die Stuhlkonsistenz auswirken und bei Obstipation helfen sollen, haben diese in Bezug auf das Mikrobiom nur bescheidene Ergebnisse gezeigt.« Daniel forderte dazu auf, Ernährungstrends genau zu hinterfragen. »Wir können das Mikrobiom durch Ernährung eben nur marginal beeinflussen. Was seine Zusammensetzung genau bestimmt, ist weiter zu klären.«
Störungen im fein austarierten Ökosystem sind mit zahlreichen Erkrankungen assoziiert, und zwar nicht nur mit solchen, die den Magen-Darm-Trakt betreffen: neben Clostridium-difficile-Infektionen, Reizdarm, chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen auch Adipositas, Diabetes oder Allergien.
Besonders in den ersten Lebensjahren scheint die enterale Mikrobiota für Störfaktoren sensibel zu sein. Vermutlich entwickeln sich die Enterotypen bezüglich ihrer Diversität bis zum dritten Lebensjahr. Und in dieser Zeit scheint das Zusammenspiel von Immunsystem und Darmbakterien sehr prägend zu sein. Klinische Studien dokumentieren, dass Antibiotika – eine fünftägige Antibiotikaeinnahme dezimiert die Darmflora um 30 Prozent – in den ersten sechs Lebensmonaten mit einem erhöhten Risiko für Allergien, Asthma oder Ekzemen im Kindesalter verbunden ist. Ein ähnlicher Zusammenhang konnte für die Antibiotikaeinnahme im ersten Lebensjahr und der Entwicklung einer entzündlichen Darmerkrankung gezeigt werden, gleiches gilt für Übergewicht und Typ-2-Diabetes. Wer in jungen Jahren häufig oder über einen längeren Zeitraum Antibiotika einnimmt, hat mit über 60 Jahren ein erhöhtes Darmkrebsrisiko.
Die Darmflora scheint zudem nicht unerheblich an der Regulation der physiologischen Darmmotilität beteiligt zu sein. Ob ein verändertes Mikrobiom in der Lage ist, die Darmmotilität zu verändern, oder ob vielmehr eine anders getaktete Motilität die Bakterien-Gemeinschaft zu beeinflussen vermag, ist derzeit nicht geklärt. Tatsache ist, dass motilitätshemmende Medikamente wie Opiate das Gleichgewicht zwischen physiologischem Mikrobiom und pathologischen Keimen stören. Eventuell spielt eine veränderte Gallensäurebildung eine Rolle. Gleiches gilt für peripher wirkende Opiatrezeptoren wie Loperamid. Nicht direkt in die Motilität eingreifende Antidiarrhoika, wie der Enkephalinasehemmer Racecadotril, zeigen diesen Effekt im Tiermodell nicht.
Kann das Darmmikrobiom den Verlauf einer SARS-CoV-2-Infektion beeinflussen? Und wie wirkt sich die Virusinfektion auf die Mikrobenzusammensetzung aus? Diesen Fragen gehen Forscherteams derzeit nach und liefern erste Ergebnisse.
»Es ist nicht das Virus allein, dass über den Schweregrad von Covid-19 entscheidet, sondern auch die Reaktion des Menschen auf die Infektion«, betonte kürzlich Dr. Jan Kehrmann von der Uniklinik Essen beim Kongress für Infektionskrankheiten und Tropenmedizin. »Risikofaktoren für einen schweren Verlauf wie hohes Alter, Diabetes oder Adipositas sind Zustände, die mit Veränderungen im Darmmikrobiom assoziiert sind«, sagte Kehrmann.
Die Veränderung der Mikroben-Gemeinschaft im Darm kann entweder indirekt über systemische Entzündungsreaktionen oder direkt durch Infektion im Darm erfolgen. Bei der Hälfte der Infizierten sei das Coronavirus im Stuhl nachweisbar, betonte der Mediziner. Der ACE2-Rezptor, über den das Virus in die menschlichen Zellen gelangt, werde auch in Darmepithelzellen stark exprimiert. Die Interaktion des Rezeptors mit dem Coronavirus beeinflusse dessen Expression, darüber auch die Aufnahme von Tryptophan in Enterozyten und in der Folge die Produktion und Freisetzung von antimikrobiellen Substanzen, berichtete der Referent. Diese können letztlich die Zusammensetzung des Darmmikrobioms verändern.
»Wir haben starke Unterschiede im Darmmikrobiom gefunden zwischen Patienten, die SARS-CoV-2- positiv beziehungsweise -negativ waren«, sagte Kehrmann. Bei Infizierten war die Artenvielfalt deutlich reduziert. Zudem unterschied sich die Zusammensetzung der Arten: Drei der vier wichtigsten Bakterienphyla unterschieden sich in ihrer relativen Häufigkeit signifikant. Bei SARS-CoV-2-Positiven war insgesamt eine proinflammatorische Signatur zu erkennen, vor allem Proteobakterien und Enterobacteriaceae kamen gehäuft vor. Bei nicht Infizierten waren Bakterien mit antientzündlichen Eigenschaften wie Bifidobakterien häufiger.
Der Einfluss der Mikrobiota auf den Verlauf einer Covid-19-Infektion scheint indes nur marginal zu sein. So konnten die Wissenschaftler zwar bei schwer Erkrankten ausgeprägtere Entzündungsmarker im Blut erkennen, das Darmmikrobiom unterschied sich in den zwei Gruppen aber kaum.
Coronaviren lösten bereits 2002 eine Pandemie aus: SARS. Ende 2019 ist in der ostchinesischen Millionenstadt Wuhan eine weitere Variante aufgetreten: SARS-CoV-2, der Auslöser der neuen Lungenerkrankung Covid-19. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronaviren.