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Tetanustoxin

Nervengift als Hoffnungsträger bei Muskelschwund

Manche Errungenschaften der Medizin sind Zufallsentdeckungen, so auch die, dass das für Wundstarrkrampf verantwortliche Nervengift Tetanustoxin eines Tages bei Muskelschwund nutzbar sein könnte – beispielsweise im Rahmen von Rückenmarksverletzungen oder neurologischen Erkrankungen wie Multipler Sklerose.
Christiane Berg
22.11.2021  14:00 Uhr

Steht diese Vermutung bereits seit mehr als 60 Jahren im Raum, so hat eine Forscher der Universität Göttingen im Rahmen einer plazebo-kontrollierten und doppelt-verblindeten Studie an 25 Hunden mit Querschnittslähmung in Folge eines Bandscheibenvorfalls jetzt wissenschaftlich belegen können, dass Tetanustoxin den damit verbundenen Muskelschwund deutlich reduziert.

Neben umfangreichen klinischen Tests führte eine Arbeitsgruppe um Professor David Liebetanz, in Kooperation mit Berliner Neurologen, bei den Hunden sonographische Messungen der Muskeldicke durch. Vier Wochen nach der Injektion von Tetanustoxin in die von Muskelschwund betroffene Muskulatur habe die erneute Messung eine deutliche Zunahme der Muskeldicke im Vergleich zu den mit Plazebo injizierten Hunden ergeben. Die Behandlung sei von allen Hunden gut und ohne Anzeichen generalisierter Tetanussymptome vertragen worden.

Zunahme von Muskeltonus

Die Erwartung, das eigentlich hochgiftige Tetanustoxin irgendwann einmal als mögliche Therapieoption zum Beispiel bei Lähmungen nutzen zu können, gehe auf den moldawischen Neurologen Boris Sharapov zurück, heißt es in einer Pressemitteilung der Universitätsmedizin Göttingen (UMG).

Dieser habe während des 2. Weltkriegs von drei durch Schüsse verwundeten Patienten berichtet, von denen zwei unter einer Querschnittlähmung litten und einer von einer Halbseitenlähmung betroffen war. Alle drei Patienten hätten gleichzeitig aus nicht genannten Gründen eine Wundinfektion mit mehr oder weniger den ganzen Körper betreffenden Muskelkrämpfen (Tetanus = altgr.: Spannung, Krampf; Wundstarrkrampf) durch das Bakterium Clostridum tetani entwickelt, das die muskelsteuernden Nervenzellen des Zentralnervensystems befällt.

Im weiteren Verlauf der Erkrankung sei es bei seinen Patienten zu einer Zunahme des Muskeltonus gekommen. Nicht nur das: Die Betroffenen hätten die zuvor gelähmten Gliedmaßen wieder bewegen können. Sharapov habe berichtet, dass der halbseitig gelähmte Patient nach wenigen Tagen sogar keinerlei Lähmungserscheinungen mehr zeigte. Der Wissenschaftler habe daraus geschlossen, dass das Tetanustoxin die noch erhaltenen Nervenzellen positiv stimuliert, und bereits 1946 eine mögliche therapeutische Verwendung postuliert.

»Heute wissen wir, dass Tetanustoxin bei Injektion in den Muskel hemmende Nervenzellen auf Rückenmarksebene ausschaltet. Dadurch werden motorische Nervenzellen wieder aktiviert, die auch die betroffene Muskulatur direkt ansteuern«, sagt Dr. Anna Kutschenko, Mitautorin der Originalveröffentlichung der Göttinger Studienergebnisse im »Journal of Cachexia, Sarcopenia and Muscle«. Auf welche Weise auch immer: Es lasse sich eine Aktivierung der zuvor funktionsunfähigen Muskulatur bei gleichzeitiger Zunahme der Muskelmasse registrieren.

Sehr viele Fragen sind noch offen. Die Forschungen zu pharmakologischen Effekten von Tetanustoxin, die sich therapeutisch nutzen lassen, stecken noch in den Kinderschuhen. Ob auf Muskel- oder Nervenebene: Es werden, so Liebetanz, nicht zuletzt zu den grundlegenden Wirkmechanismen sowie zu den Möglichkeiten des klinischen Einsatzes des bakteriellen Exotoxins noch zahlreiche Studien durchgeführt werden müssen. Doch sei das Nervengift mehr denn je zum Hoffnungsträger mutiert. Das Forschungsprojekt werde daher durch die Fakultätsförderung der UMG unterstützt.

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