Psychose durch Covid-19? |
Beim Corona-Virus existieren Hinweise auf Veränderungen im Gehirn, die psychische Erkrankungen auslösen. / Foto: Adobe Stock/Paulista
Wenn Mediziner von einer Psychose sprechen, fassen sie damit eine ganze Reihe psychischer Erkrankungen zusammen, die in vielen Fällen vorübergehend sind. Als gemeinsames Merkmal aller Psychosen gilt die veränderte Wahrnehmung und Verarbeitung der Realität. Betroffene leiden unter Wahnvorstellungen und Halluzinationen, zeigen schwerwiegende Denkstörungen oder Störungen der Motorik. Dazu können ausgeprägte Ängste oder sogenannte »Ich-Störungen« kommen, bei denen die Grenze zwischen dem eigenen Selbst und der Umwelt als fließend wahrgenommen wird. Wie genau sich die Psychose im Einzelfall äußert, ist ebenso verschieden wie es ihre Auslöser sind. Neben Drogen, bestimmten Medikamenten und besonderen Lebenssituationen können Erkrankungen, die sich direkt oder indirekt auf das Gehirn auswirken, verantwortlich sein. Dazu gehören zum Beispiel Tumoren, Verletzungen, Stoffwechselstörungen oder Infektionen. Doch nicht immer lässt sich ein akuter Auslöser finden. Mediziner sprechen in diesen Fällen von primären Psychosen, zu denen die Schizophrenie und bipolare Störungen gehören. Oft kündigen sich primäre Psychosen bereits Monate bis Jahre vor ihrem Ausbruch mit milden Symptomen wie Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Antriebslosigkeit oder sozialem Rückzug an. In der Regel stufen aber weder die Betroffenen noch ihre Angehörigen diese Veränderungen als besorgniserregend ein. Wodurch primäre Psychosen verursacht werden, ist bis heute nicht bekannt. Vieles deutet daraufhin, dass es sich um ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Faktoren handelt und zurückliegende Infektionen oder durch Infektionen ausgelöste Immunreaktionen eine Rolle spielen könnten.
Seit den 80er Jahren diskutieren Virologen und Psychiater darüber, ob eine Infektion mit dem Bornavirus mit einem gehäuften Auftreten von Depressionen und Schizophrenie einhergehen könnte. Bornaviren sind ursprünglich von Pferden und Schafen bekannt, bei denen sie das limbische System befallen und die meist tödlich verlaufende Bornasche Krankheit verursachen. Betroffene Tiere werden mit einem Mal scheu, drehen sich im Kreis, heben den Kopf nicht mehr oder werfen ihre Reiter ab. Auslöser der Debatte um menschliche Infektionen war der Nachweis von Antikörpern gegen Bornaviren in psychiatrischen Patientengruppen. Das Robert Koch-Institut (RKI) hat eine eigene Arbeitsgruppe zum Thema gegründet, die Forschung aber nach einigen Jahren eingestellt. Nach Angaben des RKI wurden keine schlüssigen Hinweise auf eine Gefährdung des Menschen durch das Bornavirus gefunden. Vielmehr seien die Nachweise des Virus in menschlichen Proben auf Laborkontaminationen zurückzuführen. Andere Wissenschaftler wiederum halten es weiterhin für wahrscheinlich, dass das Virus zumindest an der Entstehung psychiatrischer Erkrankungen beteiligt ist.
Ähnliches wird auch bei Krankheitserregern wie Streptokokken, Borrelien, Chlamydien, Herpes- oder HI-Viren für möglich gehalten. So konnten Wissenschaftler bei depressiven Aids-Patienten Veränderungen an der sogenannten Kynureninsäure im Gehirn nachweisen. Hier ist bekannt, dass derartige Veränderungen den Informationsaustausch zwischen den Neuronen stören. Einige Psychiater nehmen wiederum an, dass die Schizophrenie eine Entwicklungsstörung des Gehirns ist, die durch Infektionen in der Kindheit verursacht wurde. Um das zu prüfen, hat ein Forscherteam vom Karolinska-Institut in Stockholm Daten aus dem Schwedischen Krankenhausregister auf einen Zusammenhang zwischen einer Hirnhautentzündung (Meningitis) oder einer Gehirnentzündung (Enzephalitis) in der Kindheit und später auftretenden Psychosen untersucht. Dabei fanden sie eine höhere Wahrscheinlichkeit für eine seelische Störung bei Patienten, die als Kind eine Mumps- oder Cytomegalie-Infektion des Gehirns durchgemacht haben. Andere bakterielle und virale Erkrankungen des Gehirns waren hingegen nicht signifikant mit einer Psychose assoziiert.
Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Frage nach einem Zusammenhang zwischen Infektionen und Psychosen mit so vielen Fragezeichen behaftet, dass er sich weder belegen noch endgültig ausschließen lässt. Möglicherweise kann Sars-CoV-2 zum Verständnis beitragen, denn inzwischen ist klar, das Virus kann sich auch in Zellen des Gehirns vermehren. Das konnten Nephrologen vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf mit einer Obduktionsstudie nachweisen, die im Mai im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurde. Viele neurologische Symptome wie Schlaganfälle, Lähmungen, Kopfschmerzen oder Hirnzentzündungen lassen sich damit erklären. Möglich ist zudem, dass Sars-CoV-2 für psychiatrische Auffälligkeiten bis hin zu Psychosen verantwortlich ist.
Bereits kurz nach dem Beginn der Covid-19 Pandemie gab es erste Berichte aus China, in denen schwere neuropsychiatrische Symptome geschildert wurden. In Großbritannien wurde daraufhin von verschiedenen Fachgesellschaften die Plattform CoroNerve.com eingerichtet, in die Ärzte auffällige neuropsychiatrische Symptome ihrer Patienten eingeben konnten. Während der exponentiellen Phase in Großbritannien vom 2. bis 26. April konnten so 125 vollständige Datensätze erfasst werden, die das Team um Benedict Michael von der Universität Liverpool ausgewertet hat. Bei 39 Patienten erfassten die behandelnden Ärzte psychiatrische Veränderungen, 23 von ihnen erfüllten die Kriterien einer psychiatrischen Diagnose (Psychose, Demenz-ähnliche Störung und affektive Störung). Weitere neun entwickelten Gehirnveränderungen (Enzephalopathie) und sieben Patienten zeigten Anzeichen einer Gehirnentzündung. Interessant ist, dass neuropsychiatrische Symptome häufiger bei jüngeren Patienten auftraten, während Patienten über 60 Jahre vermehrt zerebrovaskuläre Ereignisse zeigten. Die Autoren geben jedoch zu bedenken, dass es sich bei den Daten um Spontanmeldungen handelt, die keine Aussagen über die tatsächliche Verbreitung der Symptome zulassen.
Dennoch empfehlen sie Medizinern, bei Patienten mit akuten psychiatrischen Symptomen, die Möglichkeit einer SARS-CoV-2-Infektion in Betracht zu ziehen. Hierfür sprechen auch Beobachtungen von New Yorker Ärzten. In einer Fallstudie berichtet das Team um Stephen Ferrando von drei Patienten, die während ihrer Covid-19-Infektion ausschließlich psychotische Symptome zeigten.
Ähnliches ist bereits von MERS-CoV und SARS-CoV bekannt. In einer Metaanalyse haben Wissenschaftler vom University College London nun die Daten von 3559 Personen ausgewertet, die an einer bestätigten Infektion mit SARS-CoV, MERS-CoV oder SARS-CoV-2 erkrankt waren. Dabei zeigte sich, dass während der akuten Krankheitsphase in erster Linie Verwirrtheit, depressive Verstimmungen, Angstzustände, Gedächtnisstörungen und Schlaflosigkeit auftraten. In einer der ausgewerteten Studien berichteten die Autoren von steroid-induzierten Manien und Psychosen. Auffällig ist, dass Symptome wie depressive Verstimmungen, Schlaflosigkeit, Angstzustände, Reizbarkeit, Gedächtnisstörungen und Abgeschlagenheit auch in der Erholungsphase nach einer MERS- beziehungsweise SARS-CoV-Infektion bestehen blieben. Ein Jahr nach der Genesung waren bei vielen Patienten zudem Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen, Konzentrationsschwächen sowie Schwierigkeiten in der mentalen Verarbeitungsgeschwindigkeit feststellbar. Die Ursachen dafür sind unklar. Diskutiert werden verschiedene Faktoren wie direkte Auswirkungen der Virusbesiedlung, eine zerebrovaskuläre Erkrankung, der Grad der physiologischen Beeinträchtigung, immunologische Reaktionen, Traumatisierung durch die Behandlung, soziale Isolation, Angst vor Stigmatisierung und Befürchtungen, das Virus weitergeben zu können.
Dass nach Pandemien gehäuft Psychosen auftreten können, zeigen auch die Aufzeichnungen der letzten großen Grippepandemien. So wurde nach der Spanischen Grippe von 1918/20 ein deutlicher Anstieg einer rätselhaften Erkrankung beobachtet, die der Psychiater und Neurologe Constantin von Economo als Encephalitis lethargica bezeichnete. Umgangssprachlich wurde von der Europäischen Schlafkrankheit gesprochen, die unter anderem durch unkontrollierbare Schlafanfälle und parkinsonartige Symptome auffiel. Im schlimmsten Fall fielen Betroffene in einen komaähnlichen Zustand, aus dem sie nicht mehr erwachten.
Psychiater gehen davon aus, dass auch die Covid-19-Pandemie noch zu einem deutlichen Anstieg an psychischen Erkrankungen führen wird. So wurden in den letzten Wochen bereits Fallberichte veröffentlicht, in denen von Patienten mit ursprünglich milden Covid-19-Verläufen berichtet wurde, die zeitverzögert einen Rückfall mit schwerer Symptomatik und Folgeschäden erlebt haben. Die Auslöser dafür sind zum derzeitigen Zeitpunkt noch unbekannt. Experten vermuten jedoch eine dauerhafte Schädigung des Nervensystems oder des Gehirns. Auch die veränderten Lebensbedingungen können sich negativ auf die psychische Gesundheit auswirken. Jobverlust, Angst vor einer Infektion, Einsamkeit und Isolation sind Stressoren, die viele Menschen nur schwer verarbeiten können und die Ängste, Zwänge, Depressionen und Psychosen begünstigen.
Besonders gefährdet sind Personen mit einem Risiko für psychische Erkrankungen oder bereits Erkrankte. Psychische Auswirkungen müssen nicht immer sofort auftreten. Manchmal zeigen sich die Symptome erst, wenn die Krise bereits am Abklingen oder ganz vorbei ist. Dieses Phänomen tritt besonders oft bei Menschen auf, die im medizinischen Bereich arbeiten und erst nach der Akutphase die Ruhe finden, das Erlebte zu reflektieren. Im Fall von Covid-19 könnten dieses Mal jedoch auch Risikopatienten und ihre Angehörigen davon betroffen sein.
Coronaviren lösten bereits 2002 eine Pandemie aus: SARS. Ende 2019 ist in der ostchinesischen Millionenstadt Wuhan eine weitere Variante aufgetreten: SARS-CoV-2, der Auslöser der neuen Lungenerkrankung Covid-19. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronaviren.