Suchtgefahr individuell |
Wie in vielen anderen Ländern ist das Trinken von Alkohol auch in Deutschland gesellschaftlich akzeptiert. Dennoch ist Alkohol ein Suchtmittel. / Foto: Fotolia/contrastwerkstatt
Die Beliebtheit von Bier, Wein und Co. geht vor allem auf die meist als angenehm empfundene Wirkung des mäßigen Alkoholkonsums zurück. Sie ist in der Regel anregend, stimmungssteigernd und hemmungslösend. In höheren Dosierungen kann die gelöste Stimmung jedoch abrupt in Gereiztheit, Aggression und Gewalt umschlagen. Bei weiter ansteigendem Blutalkoholspiegel sind Wahrnehmung, Koordinationsfähigkeit und Sprache beeinträchtigt. Schließlich stellen sich Müdigkeit und Benommenheit ein.
Alkohol kann eine psychische und körperliche Abhängigkeit erzeugen. Mit der Zeit benötigt der Konsument immer höhere Dosen, um denselben Effekt zu erzielen. Dieses Phänomen bezeichnen Pharmakologen als Toleranzentwicklung. Zur körperlichen Abhängigkeit gehören neben der Toleranzentwicklung Entzugsbeschwerden beim Absetzen. Ausdruck der psychischen Abhängigkeit sind das heftige Verlangen nach dem Suchtmittel sowie der Kontrollverlust über die Menge und den Zeitpunkt des Konsums. Alkoholismus ist eine anerkannte Krankheit, deren Behandlungskosten von den Krankenkassen beziehungsweise der Rentenversicherung getragen werden.
Alkoholabhängigkeit stellt sich nicht plötzlich nach dem Karnevalswochenende ein, sondern ist die Folge von übermäßigem Alkoholkonsum über einen langen Zeitraum. Dabei fällt auf, dass manche Menschen suchtanfälliger sind als andere. Lange Zeit galten psychische und soziale Faktoren als die bedeutendsten Risiken dafür, dass Menschen Alkoholiker werden – etwa Schicksalsschläge oder »schlechte« Freunde. Doch die Tatsache, dass Alkoholsucht ebenso wie andere Suchterkrankungen innerhalb einer Familie oft gehäuft auftreten, deutet darauf hin, dass auch die Gene sowie das häusliche Umfeld einen Einfluss haben.
Suchtmittel wie Alkohol aktivieren im Gehirn verschiedene Botenstoffe, vor allem Dopamin. Im limbischen System, in dem Schmerz, emotionales Verhalten und insbesondere Wohlbefinden geregelt werden, beeinflussen Suchtstoffe dosisabhängig die Ausschüttung von Neurotransmittern. In einer geringen Dosierung wirkt Alkohol stimulierend, in mittleren und höheren Dosen jedoch hemmend. Bei langfristigem Alkoholkonsum verändern sich die Anzahl bestimmter Rezeptoren und die erzielte Wirkung. Zudem verursacht Alkohol bei regelmäßigem hohen Konsum in praktisch allen Geweben Zellschädigungen, die die Funktionsfähigkeit der Organe einschränken sowie die Muskulatur und das Nervensystem beeinträchtigen. Ein abruptes Absetzen des Alkohols kann aufgrund von Fehlregulationen in den Neurotransmittersystemen schwerwiegende Entzugserscheinungen zur Folge haben, wie Krampfanfälle, Angstzustände, Bewusstseinsstörung, Halluzinationen sowie vegetative Entzugserscheinungen mit Schwitzen sowie erhöhtem Puls und Blutdruck.
Um die Bedeutung unterschiedlicher Faktoren zu klären, wertete eine US-amerikanische Forschergruppe zahlreiche schwedische Patientenregister aus und prüfte vor allem Familienkonstellationen, bei denen Kinder nicht von den leiblichen Eltern aufgezogen wurden. Das Ergebnis: Das Risiko, dass Adoptierte später alkoholkrank werden, war erhöht, sowohl wenn ein leiblicher Elternteil als auch wenn die Adoptiveltern alkoholsüchtig waren. Dabei schlug die genetische Veranlagung allerdings mehr zu Buche: Sie hatte einen doppelt so großen Einfluss wie das häusliche Umfeld in der Adoptivfamilie. Auch andere Adoptionsstudien sowie Zwillingsstudien haben die genetische Disposition bestätigt.
Mit Alkohol langfristig gut umgehen, schauen sich junge Menschen auch bei ihren Eltern ab. / Foto: Shutterstock/Monkey Business Images
Forscher gehen heute davon aus, dass 50 bis 60 Prozent der Suchtneigung für Alkohol auf Veranlagung beruht. Tatsächlich wurden Genvarianten entdeckt, die Menschen anfälliger für Alkoholismus und andere Süchte machen. Dabei gibt es allerdings nicht das eine »Sucht-Gen«. Vielmehr spielen zahlreiche unterschiedliche Gene zusammen und beeinflussen das individuelle Suchtrisiko. Das können zum Beispiel Gene sein, die die Wirkung des Suchtmittels im Gehirn oder seinen Metabolismus variieren, aber auch Gene, die bestimmte Persönlichkeitszüge, wie zum Beispiel hohe Verletzlichkeit oder erhöhte Risikobereitschaft festlegen.
Neben den in der DNA verankerten Risikofaktoren, die von einer Generation auf die nächste übertragen werden, können auch epigenetische Veränderungen die Suchtanfälligeit beeinflussen. Die Epigenetik beschreibt molekulare Vorgänge, die die Genaktivität steuern, ohne jedoch die DNA zu verändern. Epigenetische Veränderungen werden durch äußere Einflüsse wie den Lebensstil angestoßen. Sie können wie die Gene an die Nachkommen vererbt werden. Auf diese Weise kann eine Suchttendenz, die jemand in seinem Leben neu erworben hat, an die Kinder weitergegeben werden.
Daneben erhöhen verschiedene psychiatrische Erkrankungen das Risiko für eine Alkoholsucht. So empfinden beispielsweise Menschen, die an einer Depression oder sozialen Phobie leiden, die Wirkung des Alkohols als Linderung. Somit liegt nahe, dass sie vermehrt und regelmäßig Hilfe im Alkohol suchen. Im Übrigen ist auch die Veranlagung für psychiatrische Erkrankungen genetisch festgelegt.
Doch neben all der Genetik spielt zweifellos auch das soziale Umfeld in der Ausbildung einer Alkoholsucht eine bedeutende Rolle – angefangen von der Verfügbarkeit des Alkohols bis zur Einstellung der Familie. Gehört ein hoher Alkoholkonsum bei Eltern beziehungsweise Erziehungsberechtigten zum Alltag, liegt es nahe, dass heranwachsende Kinder Zugang zu Alkoholika haben und auftretende Probleme ebenfalls auf diese Art »lösen« werden. Wenn das regelmäßige Trinken von alkoholischen Getränken im Freundeskreis normal ist und nicht auf Kritik stößt, ist ein Jugendlicher vermehrt gefährdet, einen hohen Konsum zu entwickeln. Eine desolate Familienstruktur, mangelnde Fürsorge, Gewalt und Missbrauch können dazu führen, dass Betroffene später nicht verarbeitete Kindheitstraumen durch Alkohol verdrängen.
In vielen Biographien von Alkoholkranken finden sich gleich mehrere der hier beschriebenen Risiken. Dies legt den Schluss nahe, dass Alkoholismus eine multifaktorielle Erkrankung ist.