Traditionelle westliche Medizin |
Die Abtei St. Hildegard bei Rüdesheim am Rhein ist Teil des UNESCO-Welterbes Oberes Mittelrheintal. Hildegard von Bingens Heilkunde bezog den ganzen Menschen in die Behandlung einer Krankheit ein – ein heute noch aktueller Ansatz. / Foto: Adobe Stock/mojolo
Die Wiederentdeckung und die Formulierung einer eigenständigen »Hildegard-Medizin« ist vor allem dem österreichischen Arzt Dr. Gottfried Hertzka (1913 bis 1997) zu verdanken. Sein Buch »So heilt Gott« war der Auslöser einer bis heute andauernden Hinwendung zu den ganzheitlichen europäischen Naturheilverfahren. Bis dahin war das Wissen um Heilung der hiesigen Klöster fast vollständig in Vergessenheit geraten. Hildegard von Bingen selbst sah ihre medizinischen Ratschläge immer als einen Teil der Klostermedizin und nicht als eigene therapeutische Richtung. Ihr Wirken bildet den Abschluss und einen Höhepunkt der Klostermedizin in Deutschland, bevor neu entstandene weltliche Universitäten die Ausbildung der Ärzte übernahmen.
Ihre Erkenntnisse gewann sie vermutlich aus den in den Klöstern gehüteten Werken der Antike wie Galens (130 bis 200) »Humoralpathologie«, ebenso wie aus den Schriften der mittelalterlichen Kräuterkundigen wie Walahfrid Strabos (808 bis 849) »Hortulus«. Ihre Position als Äbtissin des Klosters Rupertsberg erleichterte ihr den Zugang zu den in der damaligen Zeit seltenen Büchern – der Buchdruck wurde erst gut 170 Jahre nach ihrem Tod in Deutschland erfunden.
Hildegards starker Glaube an Gott ist auch das zentrale Thema ihrer Heilkunde. Sie war fest davon überzeugt, dass eine Heilung ohne Gottes Willen und Mithilfe nicht möglich ist. Erst die bedingungslose Zuwendung des Patienten zu den Dingen, das bewusste Sehen, Riechen, Schmecken, Tasten und Hören machen es nach ihrer Ansicht möglich, die Schöpfung zu erkennen. Das gilt auch für die Heilmittel: Hildegard gab ihren Patienten keine gesund machenden Pillen, sondern verlangte von ihnen das eigene Mittun, das Begreifen der Heilkraft der Arzneien und ihre achtsame Anwendung.
Die Entstehung einer Krankheit führte Hildegard, ganz in der Tradition der antiken Humoralpathologie, auf ein Ungleichgewicht der vier Elemente im Körper zurück: »Feuer, Luft, Wasser und Erde sind im Menschen, und er besteht aus ihnen. Denn vom Feuer hat er die Wärme, von der Luft den Atem, vom Wasser das Blut und von der Erde das Fleisch.« Krankheiten manifestieren sich nach ihrer Ansicht auf ebenfalls vier Ebenen: der göttlichen, der kosmischen, der körperlichen und der seelischen. Unter dem kosmischen Bereich verstand Hildegard die äußeren Umstände, die Umwelt mit ihren vier Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft, die sich beispielsweise im Klima oder im Wetter zeigen. Der körperliche Bereich umfasst die sicht- und messbaren Symptome der Erkrankung und ist untrennbar mit der seelischen Ebene verbunden. So lösen seelische Ursachen wie Stress oder Konflikte bei entsprechender Disposition Krankheiten aus, umgekehrt beeinflussen Krankheiten oder Krankheitssymptome wie beispielsweise Schmerzen das seelische Wohlbefinden. Eine Heilung ist demzufolge nur auf allen vier Ebenen gleichzeitig möglich. Das bedarf einer Hinwendung des Patienten zu seinem Körper, seinem Geist und seiner Seele, um die eigenen Schwachstellen zu erkennen und die Heilung durch Veränderung im Lebenswandel anzustoßen.