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Therapie

Versorgung bei Neurodermitis mangelhaft

Es ist schon ein wenig merkwürdig: Endlich gibt es neue Medikamente für Neurodermitiker, aber nicht jeder, der sie braucht, erhält sie. Und auch sonst scheint es mit der Versorgung von Neurodermitikern nicht rund zu laufen. Ein Bericht aus Patientensicht.
Judith Schmitz
26.10.2021  08:30 Uhr

»Der Juckreiz ist das Schlimmste. Er macht mich wahnsinnig. An manchen Tagen kann ich keinen klaren Gedanken fassen«, sagt Teresa Walter, 31, aus Hessen. Seit ihrer Geburt leidet die Fachfrau für digitales Marketing unter der Hautkrankheit Neurodermitis.

Die Neurodermitis-Haut ist trocken. Schubweise flammt sie auf, wird warm, rot, dick und nässt. Dazu juckt sie »unglaublich stark«. In solchen Momenten ist Walter und mit ihr viele Betroffene so angespannt sensibel, dass schon ein Fussel auf der Haut genügt, um sie zu reizen.

Auf die Dauer ist das extrem anstrengend, kräftezehrend und schlafraubend. Für die Betroffenen selbst: Wie soll man sich in schlimmen Phasen auf den Unterricht oder den Job konzentrieren? Aber auch für Familienmitglieder, Partner und Freunde: Sie müssen es ertragen, wenn sich das Gegenüber phasenweise permanent kratzt und gereizt reagiert.

Über die Haut hinaus

Die Neurodermitis oder auch atopische Dermatitis (AD) belastet somit nicht nur physisch, sondern auch psychisch und sozial. Sie ist eine Erkrankung über die Haut hinaus. Bei jedem Schub fragt sich Patientin Walter: »Was habe ich jetzt wieder falsch gemacht?« Dazu gesellen sich Schamgefühle: »Wie reagieren die anderen auf meine geröteten, entzündeten Gesichtspartien und die Verbände um die Arme?« Die komplette Bandbreite an Reaktionen ist ihr im Laufe des Lebens entgegengeschlagen: Von Mitgefühl und Verständnis für die Krankheit, über dumme, verletzende Sprüche bis hin zu offenem Ekel.

Teresa Walter ist keine Ausnahme. Zwar tritt die Neurodermitis meist schon im Baby- und Kleinkindalter auf. Und bei vielen nehmen die Symptome mit dem Älterwerden ab oder verschwinden gar. Bei manchen tritt die Neurodermits aber auch erst im Erwachsenenalter auf beziehungsweise bleibt ein Leben lang, in unterschiedlich starker Ausprägung. Menschen mit mittelschwerer bis schwerer Neurodermitis erleben chronisch anhaltende, periodisch schubweise oder saisonale Verläufe. Geschätzt leiden 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche sowie 2 Millionen Erwachsene in Deutschland unter dieser Hautkrankheit.

Bei der Neurodermitis gibt es nicht die eine Ursache. Vielmehr handelt es sich um ein komplexes Wechselspiel unterschiedlicher Faktoren. Ein wichtiger Faktor: Die natürliche Schutzbarriere der Haut ist – genetisch bedingt – gestört. Die Hautbarriere ist quasi brüchig. Ein zweiter Faktor: Das Immunsystem ist überaktiv. Allergien (vor allem Pollen) und allergisches Asthma sind häufig mit der Neurodermitis vergesellschaftet, ebenso bakerielle und virale Infekte.

Neue Therapieoptionen

Am Anfang der Neurodermitis-Therapie steht die Diagnose bei einem Dermatologen. Die Behandlung richtet sich dann nach dem individuellen Hautzustand, den individuellen, bekannten Auslösefaktoren und den möglichen Komplikationen. Therapiestandard ist die S2k-Leitlinie »Atopische Dermatitis« der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). 2020 wurde die Leitlinie aktualisiert, denn insbesondere bei der systemischen Therapie hat sich viel getan: Das erste zur Behandlung der moderaten bis schweren Neurodermitis zugelassene Biologikum Dupilumab (2018) wurde in die Leitlinie aufgenommen.

Nach zwei Jahrzehnten des Entwicklungsstillstandes konnten in den vergangenen Jahren wichtige Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung in neue Arzneimittel umgesetzt werden. Inzwischen sind die Zytokin-blockierenden Antikörper Dupilumab (Dupixent®) und Tralokinumab (Adtralza®) sowie die Januskinase-(JAK)-Inhibitoren Baricitinib (Olumiant®) und Upadacitinib (Rinvoq®) für die AD-Therapie zugelassen.

Die neuen Medikamente wirken spezifisch und können mitunter bessere Ergebnisse bei schwerer Dermatitis und in der Langzeittherapie erzielen. Sie sind ein Hoffnungsschimmer für Patienten wie Walter, die mit anhaltenden schweren Verläufen und großem Frust wegen einer unzureichenden Therapie zu kämpfen haben.

Nicht nach Leitlinie

Alles gut? Nein! Obwohl es die Leitlinie gibt, werden viele Neurodermitiker in Deutschland wohl nicht leitliniengerecht behandelt. Sie sind entweder unterversorgt oder gar nicht in Behandlung. Auch gibt es erhebliche regionale Unterschiede in der Versorgung. Darauf weist der Neurodermitisreport 2021 der Techniker Krankenkasse (TK) hin, an dem Professor Matthias Augustin vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) mitgewirkt hat. Auf einer vom Deutschen Allergie- und Asthmabund (DAAB) organisierten Pressekonferenz im September 2021 zeigte der Hautexperte anhand von Daten, dass sowohl die neuen Innovationen als auch die in den Leitlinien vorgeschlagenen bewährten Maßnahmen zur Behandlung der Neurodermitis zu weiten Teilen nicht hinreichend eingesetzt warden.

So werden etwa Calcineurin-Inhibitoren wie Tacrolimus und Pimecrolimus als Alternative zu Cortisol-Präparaten nur zu einem geringen Anteil verordnet. Jedoch ist die Daueranwendung topischer Corticosteroide laut Report »nicht sachgerecht und induziert nicht tolerable Nebenwirkungen, sodass hier deutlich mehr topische Calcineurin-Inhibitoren eingesetzt werden sollten«.

Bei der Systemtherapie kommen am häufigsten Cortisol-Präparate zum Einsatz, gefolgt von Off-label-Präparaten. Dupilumab, obwohl zugelassen, werde am wenigsten eingesetzt und nicht so, wie es der Leitlinie entspräche. Den Patienten rät Augustin, eine leitliniengerechte Therapie beim Hautarzt einzufordern und notfalls den Arzt sogar zu wechseln.

Zu wenig spezialisierte Ärzte

Auch Teresa Walter hat erst jetzt über den DAAB von der neuen systemischen Behandlungsoption erfahren. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass es in ihrer Wohnnähe zu wenige auf Neurodermitis spezialisierte Ärzte gibt. Zudem hatten viele Hautärzte, die sie anrief, einen Aufnahmestopp für Neupatienten. »Was soll ich machen? Ich habe jetzt akute Hautbeschwerden, aber keinen Zugang zum medizinischen System, obwohl ich krankenversichert bin«, fragt sie sich. Ihre Krankenkasse vermittelte ihr schließlich einen Termin bei einem etwas weiter entfernten Hautarzt. Der Rat dort: »Hören Sie auf zu schwitzen und nehmen Sie Cortisol!«

»Das war für mich so niederschmetternd. Cortisol verwendete ich bereits, sah dies aber nicht als Dauerlösung. Ich hatte so auf neue Ideen gehofft«, erzählt Walter resigniert. Und Schwitzen gehört zu ihrer Leidenschaft, dem Triathlon. Sie fragt sich: »Wenn selbst Fachärzte nicht gut ausgebildet sind, eine Neurodermitis individuell zu behandeln, wie soll dann erst eine Gesellschaft verstehen, wie schlimm diese Erkrankung für den Betroffenen und sein Umfeld ist?«

Letztlich ist sie in der Notfallsprechstunde einer ortsansässigen Hautärztin gelandet. Bei ihr ist sie noch heute in Behandlung. Sie kennt aber auch Neurodermitiker, die aufgegeben haben und zu keinem Arzt mehr gehen. Darunter sind auch solche, »die von Cortisol die Nase voll haben«. Wegen der Nebenwirkungen. Selbst verteufele sie Cortisol nicht. Auch laut Leitlinie sind Glucocorticoid-Präparate neben Calcineurin-Antagonisten die wichtigsten Wirkstoffe für die äußerliche Arzneimitteltherapie. Aber man müsse wissen, wie man die Cortisol-Präparate richtig anwende und ausschleichend absetze. Immer in Absprache mit dem Arzt. Über die richtige Anwendung würden viele Patienten nicht aufgeklärt.

Pflege aus der Apotheke

Die Apotheke ist die zweite wichtige Anlaufstelle für Teresa Walter, denn Basistherapie für Neurodermitiker ist die Hautpflege. Walter ist dankbar für die kompetente Beratung zu geeigneten Pflegeprodukten – im Frühjahr, wenn die Haut zusätzlich von Pollen gereizt ist oder im Winter, wenn ihre Haut mehr Feuchtigkeit und Fett benötigt als im Sommer. Walter beklagt jedoch die hohen Preise und fragt sich, warum die Pflegeprodukte nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung bezuschusst werden? Manche Neurodermitiker kauften günstigere Pflegeprodukte in der Drogerie, weil sie sich die teureren nicht leisten könnten. Leider seien diese oft weniger wirksam.

Die Behandlung der Neurodermitis ist mehr als nur eine Arzneimitteltherapie. Sie braucht eine individuelle psychosoziale Begleitung und eine präventive Beratung etwa zu Lebensstil und Ernährung. Eine wichtige und nachweislich wirksame Maßnahme ist die Patientenschulung. Aber auch hier herrscht eine Unterversorgung. Viele Neurodermitiker kennen das Angebot gar nicht.

Teresa Walter erfuhr vor drei Jahren über ihre Hautärztin von einer Neurodermitis-Schulung und nahm daran teil. Für sie ein Glücksfall: Ihr ist bewusst geworden, dass die Neurodermitis bei jedem individuell verläuft, es nicht das eine Medikament für alle gibt. Dort wurde auch mit Mythen rund um Sport- und Nahrungsmittelverzicht (kein Zucker, keine Schokolade) aufgeräumt. Im Gegenteil: Sport tue ihr gut, physisch und psychisch. Und auch Kratzalternativen (etwa Juckreiz umleiten, indem man in die gesunde Umgebung der juckenden Haut kneift, leichtes Klopfen, Reiben oder ein Igelball) sowie Entspannungstechniken wie die Progressive Muskelentspannung hat sie für sich entdeckt, um den Juckreiz etwas besser kontrollieren zu können. Die Schulung hat sie zudem psychisch gestärkt. Ihr neues Mantra: »Die Krankheit ist ein Teil von mir. Ich brauche meine Haut nicht zu verstecken.«

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