Vom Mythos zur Evidenz |
Im Mittelalter bekamen Menschen mit Rheuma mit etwas Glück zumindest Opium gegen die Schmerzen. / Foto: iStock/statictoad
Rheuma ist kein Leiden unserer Tage. Bereits an Skeletten der Epoche um 4500 vor Christus finden sich Spuren rheumatoider Arthritiden. Und ein auf etwa 100 Jahre vor Christus datierter Text nennt typische Symptome entzündlicher Vorgänge. Auch kannten alte Hochkulturen Weidenrinde als Mittel gegen Entzündungen oder Schmerzen. Bibergeil, ein Sekret der Analdrüse des Bibers, kam ebenfalls zum Einsatz. Dieses Wissen um natürliche Salicylsäure-Quellen ging bald darauf verloren, und ungezielte Therapieversuche folgten.
Im Mittelalter waren die Sitten rau, und Pharmakotherapien gingen eher auf zufällige Entdeckungen als auf systematische Untersuchungen zurück. Wer an rheumatischen Beschwerden litt, wurde mit Aderlässen, Blutegeln oder Brechmitteln gequält. Quecksilbersalze kannten vermeintlich heilkundige Alchemisten ebenfalls. Mit etwas Glück gab es Opium gegen die Schmerzen. Und Katzenfelle sollten die gereizten Körperregionen wärmen. Vermutlich starben viele Rheumapatienten aufgrund der Therapie und nicht aufgrund ihrer Erkrankung. Als harmlose Alternative blieben Badekuren. Davon zeugt die Geschichte vieler Kurorte bis heute.
Neue Impulse kamen ab dem 15. Jahrhundert durch die rasch erblühende Anatomie. Nachdem im Mittelalter keine großen Fortschritte zu verzeichnen waren, korrigierte Andreas Vesalius (1514 bis 1564) viele Glaubenssätze aufgrund moderner Beobachtungen. Rheuma und Rheumatismus gehen als Begriffe auf Guillaume de Baillou (1538 bis 1616) zurück. Der französische Arzt veröffentlichte 1642 sein Werk »Liber de Rheumatismo et Pleuritide dorsali« (Befreiung von Rheuma und Pleuritis). Darin beschreibt er nicht nur typische Krankheitsbilder, sondern spekuliert auch über Ursachen. Als Anhänger der Lehren des Corpus Hippocraticum, einer Sammlung antiker medizinischer Texte, sieht er in Körpersäften die Wurzel allen Übels. »Kalter Schleim« soll vom Gehirn zu den Extremitäten fließen und bekannte Beschwerden auslösen. Im Griechischen bedeutet Rheuma »Strömung« oder »Fluss«.
Mit Aufblühen der organischen Chemie schlug die Geburtsstunde moderner Pharmakotherapien. 1763 bestätigte der Brite Edward Stone (1702 bis 1768) in einem Fachartikel die Wirkung von Weidenrinde-Extrakten. Er hatte heilkundliche Berichte früherer Kulturen im Experiment nachvollzogen. Ab 1828 entdeckten mehrere Forscher unabhängig voneinander Salicin, eine Verbindung aus Salicylalkohol und Glucose. Wenig später wurde Salicylsäure identifiziert. Friedrich von Heyden (1838 bis 1926) produzierte das Molekül ab 1848 als erstes industriell hergestelltes Medikament. Apotheker empfahlen sein Präparat bei Schmerzen und Entzündungen aller Art, auch bei Rheuma. Gastrointestinale Nebenwirkungen standen einer stärkeren Verbreitung jedoch entgegen, und der Erfolg blieb aus.
Deshalb synthetisierten Chemiker weltweit Derivate der Salicylsäure. Acetylsalicylsäure (ASS) geht in unreiner Form auf Charles Frédéric Gerhardt (1816 bis 1856) zurück. 1897 gelang Felix Hoffmann (1868 bis 1946) im Bayer-Stammwerk Wuppertal-Elberfeld die Darstellung reiner Acetylsalicylsäure. Und Kurt Witthauer (1865 bis 1911) prüfte ASS am Diakoniekrankenhaus Halle. Schnell erkannte er die Vorzüge bei Patienten mit rheumatischen Erkrankungen, musste aber bald feststellen, dass sich Magengeschwüre häuften.
Wie ging es weiter? 1936 wiesen mehrere Wissenschaftler Cortisol in Nebennieren nach. Und Philip Hensch (1896 bis 1965), ein US-Rheumatologe, fand heraus, dass 60 bis 90 Prozent aller Patientinnen während ihrer Schwangerschaft von einer Remission ihrer chronischen Polyarthritis berichten, die Gründe waren unklar. Von erhöhten Cortisolspiegeln wussten sie noch nichts.
Hensch stand mit den Steroidforschern Edward Kendall (1886 bis 1972) und Tadeus Reichstein (1897 bis 1996) in regem Kontakt. Die Experten entscheiden sich, einen Therapieversuch mit Cortison, einem Derivat des Cortisols, zu wagen, konnten aus Rindernebennieren jedoch zu wenig Substanz isolieren. Deshalb arbeiteten sie mit leicht verfügbaren Gallensäuren. Die 30-stufige Synthese konnte das Team erst 1947 abschließen, mit Merck als industriellem Partner. 1948 erhielt die erste Rheumapatientin Cortison. Ihre Symptome verschwanden nach wenigen Tage, kamen nach Absetzen des Wirkstoffs jedoch zurück. Hench, Kendall und Reichstein erhielten für ihre Leistungen 1950 den Nobelpreis für Medizin. Sie berichteten später über Nebenwirkungen, etwa Natrium- und Wasserretentionen, Hypertonien, Linksherzinsuffizienzen und Ödeme. Dieses Risiko wurde ab 1954 durch Prednison bzw. Prednisolon reduziert. Beide Moleküle haben bis heute ihren Platz in der systemischen Therapie rheumatoider Erkrankungen verteidigt. Man beginnt mit höheren Dosen und versucht nach Ansprechen der Behandlung, die tägliche Menge zu verringern (»Low-dose-Therapie«).
Ab den 1960er-Jahren untersuchten Chemiker der Schweizer J. R. Geigy AG Phenylessigsäure-Verbindungen. Sie entdeckten Diclofenac als Wirkstoff gegen rheumatoide Erkrankungen. Ibuprofen geht auf Arbeiten der Boots Pure Drug Company (heute Alliance Boots) zurück. 1969 wurde Ibuprofen in Großbritannien als »Brufen« in den Markt eingeführt.
NSAIDs waren Fluch und Segen zugleich. Ihrer antiinflammatorischen Wirkung standen unerwünschte gastrointestinale Effekte entgegen. Auch dieses Problem ließ sich durch H2-Rezeptorantagonisten (ab 1976 Cimetidin) und Protonenpumpenhemmer (ab 1988 Omeprazol) als Komedikation lösen.
Mit der Einführung von Methotrexat im Jahr 1988 begann das Zeitalter moderner Rheumatherapien. Das Pharmakon wird bis heute verordnet. Auch die Grundlagenforschung machte rasante Fortschritte. Wissenschaftler berichteten, dass mehrere Proteine bei entzündlichen Vorgängen im Körper eine Rolle spielen. Sie entdeckten den Tumornekrosefaktor alpha (TNF-alpha), Interleukine (IL) bzw. Oberflächenstrukturen auf B-Zellen (CD20). Ziel moderner Pharmakotherapien ist, Signalübertragungswege zu stoppen. Gegen TNF-alpha richten sich Adalimumab, Certolizumab, Etanercept, Golimumab und Infliximab. Anakinra ist ein IL-1-Rezeptor-Antagonist, und Rituximab hat CD20 zum Ziel.
Studien und Daten aus Registern belegen, dass Patienten langfristig von Biologicals profitieren. Dem stehen vergleichsweise wenig unerwünschte Effekte gegenüber. Was noch für die optimale Behandlung spricht: Unbehandelt steigt bei rheumatischen Erkrankungen die Mortalität.
Bleibt als Fazit: Heute setzen Ärzte bei der Pharmakotherapie auf mehrstufige Konzepte. Dazu zählt neben Analgetika bzw. NSAIDs vor allem das Basistherapeutikum Methotrexat. Mitunter werden auch Azathioprin, Cyclosporin A, Leflunomid, Sulfasalazin, Chloroquin und Hydroxychloroquin als Basistherapeutika verordnet. Biologicals und Glucocorticoide ergänzen das Spektrum an Möglichkeiten, je nach individuellem Krankheitsbild.