Wann Opioid-Analgetika eine gute Option sind |
Brigitte M. Gensthaler |
21.10.2020 12:50 Uhr |
Fokus auf die Lebensqualität: Besser ein starkes Opioid in niedriger Dosis als ein schwaches Analgetikum, das man hoch dosieren und damit vermehrt Nebenwirkungen in Kauf nehmen muss. / Foto: imago/Hettrich
Typischerweise treten Schmerzen des Bewegungsapparats und Tumorschmerzen im Alter vermehrt auf. »Gerade multimorbide Senioren mit chronischen Schmerzen brauchen besondere Zuwendung und eine intensive Begleitung«, mahnte Dr. Johannes Horlemann, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS), beim Deutschen Schmerz- und Palliativtag. Die DGS fordert eine standardisierte und individualisierte Schmerztherapie, bei der Opioide ihren festen Platz haben.
Chronische Schmerzen belasten die Lebensqualität von älteren und alten Menschen auf vielfältige Weise. Sie führen unter anderem zu Schlafstörungen und Aufmerksamkeitsdefiziten, schränken die Mobilität im Alltag ein, rauben die Kraft und begünstigen soziale Isolation und Depression. Letztlich können sie das Sturzrisiko erhöhen – und damit die Gefahr von Knochenbrüchen, die nicht selten in die Pflegebedürftigkeit münden. Allerdings erhöhen auch Analgetika das Sturzrisiko, zum Beispiel wenn sie müde machen oder Benommenheit auslösen.
Entgegen früherer Ansicht leiden Demenz-kranke Menschen ebenso unter Schmerzen wie kognitiv gesunde, auch wenn sie ihre Schmerzen oft verbal nicht mehr ausdrücken können. Wimmern und Weinen, Aggression und Abwehr, aber auch Rückzug und Vermeiden jeglicher Bewegung und Aktivität können Ausdruck starker Schmerzen sein.
Wie immer in der Schmerztherapie ist auch bei älteren Menschen ein multimodaler Ansatz wichtig, der Beweglichkeit und Körperfunktionen, die Selbstständigkeit und damit die Lebensqualität verbessern soll. Schmerzfreiheit ist oft nicht zu erreichen. Neben Medikamenten sind physikalische und physiotherapeutische Maßnahmen wie Ausdauer- und Krafttraining sowie Psychotherapie und Entspannungstechniken wichtig. Eine gute Analgesie kann den Senioren mitunter helfen, das Training anzupacken.
Klassiker in der Schmerztherapie sind nicht-steroidale Antirheumatika (NSAR) wie Ibuprofen, Diclofenac und Co, die alten Menschen oft lange verordnet werden – trotz vielfältiger Risiken. Sie können gastrointestinale Blutungen und Ulcera auslösen, die nicht selten so schwer verlaufen, dass die Patienten ins Krankenhaus müssen. Die perorale Gabe ist wenig bis nicht geeignet für Patienten mit Magengeschwür in der Vorgeschichte, Hypertonie sowie fortgeschrittener Herz- oder Niereninsuffizienz. In Kombination mit einem Diuretikum und einem ACE-Hemmer oder AT1-Antagonisten erhöhen NSAR das Risiko für ein akutes Nierenversagen; diese Kombination wird auch »triple whammy«, also Dreifachhammer, gegen die Niere genannt.
Bei Gelenk- und Rückenschmerzen kann die topische Anwendung, zum Beispiel von Ibuprofen, Ketoprofen, Diclofenac oder Piroxicam, in Form von Gelen, Salben oder als Pflaster eine Alternative bieten. Das Apothekenteam sollte darauf hinweisen, Topika in ausreichender Dosierung (3 bis 5 cm Salbenstrang) zwei- bis dreimal täglich und nur auf unverletzte Haut aufzutragen. Topische NSAR sollten nicht mit oralen NSAR kombiniert werden. Leichtes Einmassieren erhöht die Wirksamkeit, wirkt entspannend und fördert die Durchblutung.
Schmerzmediziner Horlemann brach beim Deutschen Schmerztag eine Lanze für die Opioide: »Eine Opioid-Therapie im Alter ist nicht nur möglich, sondern sehr oft nötig.« Bei richtiger Anwendung im Rahmen einer multimodalen Schmerztherapie könne man mit Opioiden effektiver und zugleich schonender Therapieerfolge erzielen als mit anderen Analgetika – nicht nur kurzfristig, sondern vor allem in der Langzeittherapie. »Opioide sind nicht nur für Patienten mit Tumorschmerzen geeignet, sondern auch bei chronischen Schmerzen aufgrund degenerativer Erkrankungen, die im Alter häufig vorkommen.«
Der Schmerzmediziner begründete dies mit der guten Organverträglichkeit von Opioiden im Vergleich zu NSAR. »Besser ein starkes Opioid in niedriger Dosis, das keine Organtoxizität aufweist, als ein schwaches Analgetikum, das man hoch dosieren und damit vermehrt Nebenwirkungen in Kauf nehmen muss.« Günstig sind der große Spielraum bei der Dosierung und die große therapeutische Breite der Opioide. Zudem sind sie – anders als NSAR – auch bei stärksten Schmerzen wirksam und gut kombinierbar.
Zu den Grundregeln im Umgang mit starken Analgetika gehört das vorsichtige Eindosieren. Nach dem Motto »Start low, go slow« sollte man mit niedriger Dosis – in der Regel mit der halben Startdosis – beginnen und je nach Wirksamkeit individuell auftitrieren. Zum Einstieg sind perorale nicht-retardierte Arzneiformen günstig, um den Effekt genau kontrollieren zu können. Auch für Patienten mit Nicht-Tumorschmerzen gelten die Regeln: perorale Gabe bevorzugen und Opioide nach festem Zeitschema einnehmen (»by the mouth, by the clock«). Flüssige Arzneiformen erleichtern die orale Einnahme bei Schluckbeschwerden.
In der Dauertherapie sollte man versuchen, mit einer geeigneten Retard-Galenik möglichst mit einer Einmalgabe möglichst stabile Wirkspiegel über 24 Stunden zu erzielen. Dieses Vorgehen vermeidet ein Aufflammen der Schmerzen am Ende eines Dosierintervalls, schmerzbedingte Schlafstörungen und die Entwicklung einer Abhängigkeit.
Perorale Opioide sind besser steuerbar als transdermale Systeme (TTS). Diese geben den Wirkstoff zum Beispiel bei Wärmeanwendung (Wärmflasche) schneller frei als gewünscht und erzeugen damit hohe Wirkspiegel im Körper. Diese entstehen auch bei ausgezehrten Menschen, die kaum Unterhautfettgewebe haben. Allerdings erleichtern TTS die Analgesie bei dementen Patienten, die sich weigern, Medikamente zu schlucken.
Zwar lindern alle Opioide Schmerzen, doch zwischen den Wirkstoffen gibt es durchaus Unterschiede. Bei der Auswahl helfen Listen wie FORTA („Fit for The Aged“), die 2018 aktualisiert wurde. Sie teilt die Alterstauglichkeit von etwa 300 Substanzen für 29 alterstypische Krankheitsbilder nach ihrer Wirksamkeit und Verträglichkeit in vier Kategorien ein: von A (unverzichtbar), B (vorteilhaft) und C (fragwürdig) bis D (vermeiden). Bei Berücksichtigung des individuellen Patientenprofils könne FORTA helfen, das Nutzen-Risiko-Profil der Arzneitherapie älterer Menschen zu optimieren, hieß es beim Schmerztag.
Zur Therapie von chronischen Schmerzen wird nur der Wirkstoff Paracetamol mit »A« bewertet; allerdings ist seine Wirksamkeit gering und eine potenzielle Lebertoxizität zu beachten. Mit »B« werden Metamizol und Opioide wie Buprenorphin, Oxycodon und Hydromorphon bei vorsichtiger Eintitrierung bewertet. Feste Kombinationen aus Tilidin oder Oxycodon mit Naloxon werden mit »C« bewertet, sind also „fragwürdig“ für ältere Menschen. Dies gilt auch für Morphin, Tramadol und Tapentadol sowie etliche andere Wirkstoffe, die bei neuropathischen Schmerzen eingesetzt werden.
Oxycodon und Hydromorphon werden in der Praxis häufig bei geriatrischen Patienten und zur Palliativtherapie genutzt. Oxycodon hat die 1,5- bis zweifache Wirksamkeit von Morphin. Es ist als Retardtablette und als nicht retardierte Lösung verfügbar. Hydromorphon ist fünf- bis achtmal wirksamer als Morphin. Anders als bei Morphin entstehen bei der Verstoffwechselung keine aktiven Metaboliten. Zudem ist es besser einsetzbar bei Leber- und Niereninsuffizienz.
Die häufigsten Nebenwirkungen der Opioide sind Übelkeit, Obstipation, Müdigkeit, seltener Harnverhalt (bei Männern) und Verwirrtheit. Die gefürchtete Atemdepression spielt –zumindest bei Tumor-Schmerzpatienten – deutlich seltener eine Rolle.
Im Gegensatz zu Übelkeit, Erbrechen und Sedierung, die vor allem zu Therapiebeginn auftreten und dann meist nachlassen, persistiert eine Opioid-induzierte Obstipation. Sie muss konsequent behandelt werden. Horlemann betonte: »Es ist ein großer Unterschied, ob bei einem Patienten eine habituelle Obstipation besteht oder ob es sich um eine Opioid-induzierte Obstipation (OIC) handelt.« In der Praxis werde dies aber oft nicht beachtet. Jedoch seien klassische Laxanzien bei OIC kaum oder unzureichend wirksam. Dies gilt gemäß der DGS-Praxisleitlinie zur OIC auch für Macrogol, Bisacodyl, Natriumpicosulfat und Sennapräparate, die dennoch als Arzneimittel der ersten Wahl bezeichnet werden. Auch eine Kombination von Mitteln mit unterschiedlichen Wirkprinzipien könne wirksam sein.
Die Autoren der Praxisleitlinie empfehlen peripher wirksame µ-Opioidrezeptor-Antagonisten, kurz PAMORA, wie Naloxegol, Methylnaltrexon und Naldemedin gegen die Obstipation. »PAMORA wirken kausal, ohne die analgetische Wirkung des Opioids zu beeinträchtigen«, schreibt die DGS.