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Kleine Patienten

Wann zum Kinderarzt oder in die Klinik?

Kinder- und Jugendarztpraxen arbeiten im Moment ebenso wie Kinderkliniken am Limit, unter anderem wegen einer Welle von Infekten der oberen Luftwege. Dabei brauche längst nicht jedes erkältete Kind ärztliche oder gar notärztliche Behandlung, betonen Mediziner.
Barbara Erbe
18.01.2023  09:00 Uhr

Es passiert ständig: Ein Kindergartenkind hustet und schnieft, die Eltern werden gebeten, es abzuholen. Eine Grundschülerin hat Kopfschmerzen, einem Teenager wird in der Schule übel – alles gute Gründe, die Kinder nach Hause zu schicken. Zum Arzt oder gar in die Klinik müssten sie deshalb aber noch lange nicht, sagt Jakob Maske, Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte. Er beobachte in den vergangenen Jahren eine zunehmende Ratlosigkeit unter Eltern, wenn es darum geht, die Gefahrenlage abzuschätzen. »Ein Kind, das einfach nur hustet und schnieft, muss aber nicht zum Arzt«, betont der Mediziner. Es brauche vor allem Ruhe, viel Flüssigkeit und frische Luft. »Das ist alles erst mal zu Hause lösbar.«

Auch im Fall des heimgeschickten Kindes rät der Mediziner dazu, »erst einmal den Verstand einzuschalten und abzuschätzen: Geht es dem Kind wirklich schlecht oder braucht es einfach mal einen Tag Auszeit?« »Wirklich schlecht« meint dabei beispielsweise einen deutlich verschlechterten Allgemeinzustand, Atemnot, länger als vier Tage anhaltendes Fieber, Ohren- oder Halsschmerzen oder auch eine starke körperliche Schonhaltung infolge von Schmerzen.

Auch Ursula Marschall hat die Erfahrung gemacht, dass Eltern kranker Kinder heute schneller in Panik geraten als noch vor wenigen Jahrzehnten. Die leitende Medizinerin der Barmer Ersatzkasse ist Anästhesistin und hat mehr als 15 Jahre lang als Notärztin gearbeitet. Sie glaubt, dass diese Verunsicherung vor allem damit zusammenhängt, dass junge Eltern heute einerseits öfter auf sich allein gestellt sind, weil sie nicht mehr in größere Familienverbände eingebunden sind, andererseits aber bei ihren Internetrecherchen auf schlimmstmögliche Ursachen für alltägliche Beschwerden stoßen.

»Eine PTA kann aufgeregten Eltern deshalb oft besser helfen, wenn sie erst einmal abcheckt, ob sie über Erfahrungswissen verfügen oder nicht.« Zum Beispiel solle die PTA ruhig nachfragen, ob der kleine Patient das erste Kind ist oder ältere Geschwister hat. Vor allem bei Eltern von ersten oder Einzelkindern sei vieles an Wissen nicht (mehr) vorhanden, was eine Generation zuvor noch Alltagswissen war, beispielsweise wann und wie man Wadenwickel macht oder mit Kamillentee inhaliert. »Da würde ich als PTA immer nachfragen, ob man das sicherheitshalber noch mal erklären sollte.«

Säuglinge mit Fieber zum Arzt

Selbstverständlich gibt es Situationen , in denen das Kind möglichst schnell in einer Arztpraxis oder gar in einer Klinik vorgestellt werden sollte. Zu einem Arztbesuch raten Jakob Maske und Ursula Marschall vor allem dann, wenn der kleine Patient noch im Säuglingsalter ist. »Ein Kind, das ein halbes Jahr oder jünger ist und fiebert, sollte man immer kinderärztlich untersuchen lassen – ebenso, wenn es länger als einen Tag schlecht trinkt.« Klein- und ältere Kinder, die länger als vier Tage über 38 °C oder akut über 40 °C Fieber haben, sollte man ebenfalls bei Kinderärztin oder -arzt vorstellen.

Auch Durchfall oder Erbrechen können Anlass für einen Praxisbesuch sein, wenn sie über ein, zwei Tage hinaus andauern. »Ein einzelner Tag ohne Essen aber macht einem ansonsten gesunden Kind gar nichts aus«, erklärt Ursula Marschall. »Die Eltern sollten allerdings darauf achten, dass das Kind genügend Flüssigkeit zu sich nimmt.« Geeignet sind Wasser und Apfelsaftschorle, ebenso Hühnersuppe, die auch auf den Salzhaushalt ausgleichend wirkt. Eine Ausnahme bilden aber auch hier die Säuglinge: »Wenn sich ein Säugling innerhalb von ein bis zwei Stunden mehrfach erbricht, sollte man sofort ärztlichen Rat suchen.« Auch starke Schmerzen, von denen sich ein Kind nicht ablenken lässt, sollten abgeklärt werden, vor allem wenn ihnen eine Verletzung oder ein Unfall vorausgegangen sind Da hinter Ohrenschmerzen immer auch eine Entzündung und hinter Halsschmerzen auch eine Streptokokken-Infektion stecken könnte, sollten auch sie ärztlich untersucht werden.

Ein echter Notfall können dagegen Fieberkrämpfe sein – zumindest wenn die Eltern noch keine Erfahrung damit haben und nicht die nötigen Gegenmittel parat sind. Fieberkrämpfe beruhen auf einer Veranlagung des Gehirns, auf Fieber mit Krampfanfällen zu reagieren. Sie treten besonders bei Kindern zwischen einem und drei Jahren auf, die Neigung dazu verliert sich in der Regel im Grundschulalter.

Meist höre ein einfacher Fieberkrampf zwar innerhalb weniger Minuten von selbst auf. Aber der Verlauf seit äußerst bedrohlich, beschreibt Ursula Marschall. »Die Kinder können innerhalb weniger Sekunden blau anlaufen und das Bewusstsein verlieren, gleichzeitig verspannen sich die Muskeln, zucken oder werden auch völlig schlaff. Wer so etwas mal erlebt hat, vergisst das so schnell nicht. Wer damit keine Erfahrung hat, sollte nicht zögern, die 112 zu wählen«. So drastisch ein Fieberkrampf auch erscheint, das Kind erholt sich typischerweise rasch. Hört der Anfall nicht von selbst auf und dauert länger als 15 Minuten, muss er durch Medikamente beendet werden – meist Zäpfchen mit einem Benzodiazepin. »Eltern von Kindern, die zu Fieberkrämpfen neigen, haben meist für alle Fälle eine Rektiole mit dem jeweiligen Notfallmedikament zu Hause.« Nach dem Fieberkrampf sollte das Kind nochmals ärztlich untersucht werden, um eine Hirnhautentzündung oder andere schwerwiegende Erkrankungen auszuschließen.

Atemnot und steifer Nacken

Weitere eindeutige Gründe, mit dem Kind eine Klinik aufzusuchen oder den Notdienst zu rufen, sind schwere Atemnot des Kindes, die zu blauen Lippen führt, eine schwere Verletzung oder auch Anzeichen einer akuten Blinddarmentzündung, also starke Bauchschmerzen im rechten Oberbauch und um den Nabel herum, gepaart mit Fieber und Übelkeit oder Erbrechen. Auch die so genannte Nackensteifigkeit, die auf eine Gehirnhautentzündung hindeutet, ist ein Alarmzeichen, berichtet Jakob Maske. »Dabei liegt das Kind flach auf dem Rücken und hat beim Anheben des Kopfes Schmerzen im Nacken. Auch ist es nicht in der Lage, das Kinn bis zum Brustbein vorzubringen (Knie-Kuss-Phänomen).«

Fest steht aber auch: Wenn keine lebensbedrohliche Erkrankung vorliegt und der Rettungsdienst informiert werden muss, können die Eltern erst einmal (auch telefonisch) Kontakt zu ihrer Kinder- und Jugendärztin oder ihrem -arzt aufnehmen. »Nur sehr wenige Kinder werden von unseren Praxen nach einer telefonischen Rückfrage direkt an die Kinderkliniken verwiesen«, berichtet Jakob Maske.

Ein typisches Beispiel hierfür ist der Sturz eines Babys vom Wickeltisch, erläutert Ursula Marschall. »Das ist nicht immer ein Notfall, auch wenn das Kleine fürchterlich brüllt.« So lange sich das Kind danach wieder normal verhalte und sich seine Pupillen nicht weiteten - was auf eine Blutung hindeute -, reiche es aus, in den darauffolgenden Tagen die Kinderarztpraxis aufzusuchen. »Wird es drei, vier Stunden nach dem Sturz aber schläfrig, müde und verlangsamt in seinen Reaktionen, sollte man mit ihm umgehend ins Krankenhaus fahren, auch wenn die Pupillen sich noch nicht verändert haben.« Dort müssten dann per Computertomografie mögliche Hirnblutungen ausgeschlossen werden – Kinderarztpraxen verfügen in der Regel nicht über ein CT-Gerät.

Ursula Marschall und Jakob Maske appellieren an alle Eltern, weder den kassenärztlichen Notdienst noch die Notrufnummer 112 aus Bequemlichkeit zu nutzen, um sich etwa lange Wartezeiten in der Arztpraxis zu ersparen oder weil es zeitlich am Wochenende besser passt. Schließlich arbeiten Kinderkliniken und auch der kinderärztliche Notdienst schon jetzt an der Belastungsgrenze und oft genug darüber hinaus. Unnötige Besuche gehen damit zulasten ernsthaft und lebensbedrohlich erkrankter Kinder.

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