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Corona-Regeln

Warum wir immer nachlässiger werden

Über ein Jahr sorgt die Pandemie nun schon für einschneidende Veränderungen in unserem Alltag. Und so langsam lässt die Motivation, die Corona-Regeln zu befolgen, nach. Wo kommt das her und was kommt damit auf uns zu?
dpa
11.03.2021  15:15 Uhr
Warum wir immer nachlässiger werden

Mehrere Freunde gleichzeitig einladen, die Kosmetikerin ins Haus bestellen, den Kurzurlaub als Dienstreise ausgeben – viele Menschen betrachten die Corona-Verbote lediglich als Empfehlung. Die nun gelockerten Bestimmungen dürften die Menschen zu noch mehr Nachlässigkeit verleiten, befürchten nicht nur Virologen und Epidemiologen. Wer von »Pandemiemüdigkeit« spreche, unterschätze das Ausmaß des Dilemmas, sagt der Marburger Sozialpsychologe Professor Ulrich Wagner.

Gelernte Hilflosigkeit

Es gibt Menschen, die bleiben an roten Ampeln stehen – auch wenn kein Auto kommt und es mitten in der Nacht ist, Psychologen nennen das intrinsische Motivation. Andere bleiben nur stehen, wenn ein Auto kommt oder ein Polizist in der Nähe ist, das nennt man extrinsische Motivation. Im zweiten Corona-Jahr befürchtet Wagner, dass die intrinsische Motivation der Menschen stark nachlässt. »Viele Menschen fangen an, sich nur noch an die Regeln zu halten, wenn sie überwacht werden. Die Corona-Regeln können nur schlecht überwacht werden. Das ist ein sehr ernstes Problem.«

Nach Monaten von Einschränkungen hätten die Menschen das Gefühl, dass sich an der Lage ohnehin nichts ändert, egal wie sie sich verhalten. »Man nennt das gelernte Hilflosigkeit«, erklärt der Marburger Psychologe. Darauf gebe es drei mögliche Reaktionen: »Ich werde depressiv, ich werde aufsässig oder ich lasse es laufen.« Alle drei Reaktionen seien bereits zu beobachten, sagt Wagner. Er glaubt, dass sich alle drei noch verstärken werden.

Neue Regeln zu kompliziert

Die komplizierten Regeln, die in der vergangenen Woche verabschiedet wurden, bergen Wagner zufolge zusätzlich die Gefahr, »dass die Menschen überfordert sind«. Lockdown-Verlängerung bei gleichzeitigen Lockerungen – das sende widersprüchliche Botschaften. Auch der Epidemiologe Rafael Mikolajczyk hält die Bund-Länder-Beschlüsse für ein falsches Signal an die Bevölkerung. »Lockerung in den Einstellungen kann größere Folgen haben als die Regeln selbst«, erklärte der Wissenschaftler der Universitätsklinik Halle vergangene Woche. Das vereinbarte regionale Vorgehen sei zwar psychologisch und politisch verständlich, »epidemiologisch ist es kurzsichtig«.

»Die Menschen schaffen es, sich an die Corona-Regeln zu halten, wenn sie schwere negative Folgen für sich selbst befürchten.«
Professor Ulrich Wagner, 

Wagner erklärt das so: »Eine Gesellschaft funktioniert nur dann, wenn die Menschen bereit sind, sich freiwillig an die Regeln zu halten. Das setzt voraus, dass man von den Regeln überzeugt ist.« Der Psychologe glaubt nicht, dass das beim Thema Corona noch bei allen der Fall ist. »Die Menschen schaffen es, sich an die Corona-Regeln zu halten, wenn sie schwere negative Folgen für sich selbst befürchten. Dieses Motiv tritt gerade in den Hintergrund. Was die Menschen sehen, ist, dass die Zahl der Todesfälle sinkt.« Sich selbst einschränken, um andere zu schützen – dieses Narrativ sei »aufgebraucht«, sagt Wagner. Ethisch sei es sehr »honorig«, psychologisch funktioniere es aber nicht auf Dauer. Heute sei das »nur noch eine schöne Geschichte, die wir uns erzählen«.

Auch ein weiteres Narrativ hält Wagner für problematisch: Seit einem Jahr werde die Verantwortung allein auf das Individuum geschoben. »Der Vorwurf lautet: Wenn es nicht besser wird, haben wir uns nicht genug zusammengerissen.« Damit ziehe sich der Staat aus der Verantwortung.

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