Was die Psyche stark macht |
Wenn Familien gezwungenermaßen auf engem Raum mehr Zeit miteinander verbringen, steigt das Risiko, dass familiäre Konflikte eskalieren. / Foto: Adobe Stock/fizkes
PTA-Forum: Welche psychischen Folgen hat die Corona-Pandemie?
Munz: Gesellschaftliche Krisen hinterlassen Spuren in der Psyche. Die häufigsten Reaktionen auf die aktuelle Pandemiesituation – auch bei psychisch Gesunden – sind Unsicherheit, Angst und Niedergeschlagenheit. Das sind normale Reaktionen auf belastende Ereignisse. Menschen verfügen grundsätzlich über ein erhebliches Potenzial, psychische Gefährdungen und Krisen zu durchleben und sich auch allein wieder davon zu erholen. Die Corona- Pandemie stellt diese Selbstheilungskräfte jedoch vor eine außergewöhnliche Herausforderung. Die große Verunsicherung, die das Virus mit sich bringt, dauert an. Aus der Psychotherapieforschung ist bekannt: Je länger Krisen, Konflikte und lebensgefährdende Ereignisse dauern, desto eher sind die psychischen Widerstands- und Regenerationskräfte (»Resilienz«) überfordert und es können sich psychische Erkrankungen entwickeln. Insbesondere wenn bereits eine psychische Verletzbarkeit besteht, kann die Corona-Pandemie psychische Erkrankungen auslösen oder verstärken. Neben Depressionen und Angststörungen, akuten und posttraumatischen Belastungsstörungen können sich auch Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit, Zwangsstörungen und Psychosen herausbilden.
PTA-Forum: Welche Gruppen sind besonders gefährdet, psychisch schlechter durch die Krise zu kommen?
Munz: Nicht alle Menschen sind einem gleich hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt oder psychisch und sozial gleich belastet. Manche Menschen sind körperlich vorerkrankt und deshalb besonders gefährdet. Manche trifft die Pandemie härter, weil sie selbst oder Angehörige erkrankt sind oder weil sie als beruflich Pflegende oder Ärzte ständigen Kontakt mit Corona-Erkrankten haben. Andere müssen vor allem mit den Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen klarkommen und auf gewohnte Tagesstrukturen und Betreuungs- und Pflegeangebote verzichten. Bis heute ist ein Ende der Corona-Pandemie nicht abzusehen. Die große Verunsicherung, die das Virus mit sich bringt, bleibt bestehen – und damit die Angst um die eigene Existenz. Immer mehr zeichnet sich ab, dass ein beachtlicher Teil der Bevölkerung erhebliche finanzielle Engpässe zu bewältigen hat. Das wird nicht ohne Folgen bleiben. Die schwierigen Lebenslagen ohnehin schon sozial benachteiligter Menschen und Familien werden sich weiter verschärfen.
PTA-Forum: Man hört immer wieder, dass häusliche Gewalt durch die Pandemie zunimmt. Was ist an dieser These dran?
Munz: Familien verbringen mehr Zeit miteinander. Vor allem in kleinen, beengten Wohnungen fehlen Rückzugsmöglichkeiten. Die Eltern sind nicht selten durch finanzielle Existenzängste verunsichert und können ihre Kinder weniger unterstützen. Das Risiko, dass familiäre Konflikte eskalieren, steigt – vor allem, wenn Männer alkoholisiert sind und zu Gewalttätigkeit neigen. Durch Schulschließungen fallen wichtige Schutzräume und Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche weg. Erste Studien bestätigen einen Anstieg von Gewalt im häuslichen Umfeld. Bei einer Untersuchung der Medizinischen Hochschule Hannover gab beispielsweise jeder 20. Befragte an, während der Corona-Pandemie schon Opfer von verbaler, körperlicher oder sexueller häuslicher Gewalt geworden zu sein.
PTA-Forum: Zur gefährdeten Gruppe gehören auch Kinder. Was können Eltern tun, um dem Nachwuchs zu helfen?
Munz: Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Kinder und Jugendliche standen lange nicht im Fokus der Öffentlichkeit. Dabei trifft vor allem sie die Schließung von Kitas, Schulen, Spielplätzen und Sportvereinen. Kinder sind dabei in ihrem Spiel und Sozialleben massiv eingeschränkt. Viele Kinder sorgen sich, dass sie sich selbst oder sich jemand aus der Familie mit dem Virus anstecken könnte. Durch die Schließung von Kitas und Schulen verlieren sie wichtige Kontakte zu Gleichaltrigen. Insbesondere bei Einzelkindern kann dies zur sozialen Isolation führen. Kleine Kinder können das gemeinsame Spiel mit anderen kaum durch Telefonate oder Internetkontakte ersetzen. Das Spiel in den Wohnungen ist nicht zu vergleichen mit den Kontakt- und Bewegungsmöglichkeiten auf Spielplätzen und in Sportvereinen.
Nähe und Aufmerksamkeit der Eltern sind der wichtigste stabilisierende Faktor für Kinder und Jugendliche in der Ausnahmesituation der Pandemie. Als Vorbild können sie ihnen entscheidend helfen, die große Verunsicherung zu bewältigen, die der grundlegend andere Alltag auslöst.
PTA-Forum: Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede, wenn es um die Auswirkungen der Corona-Krise auf die psychische Gesundheit geht?
Munz: Frauen sind durch die Corona-Pandemie mutmaßlich psychisch stärker gefährdet als Männer und haben auch ein höheres Risiko, eine psychische Erkrankung zu entwickeln. Das ist deshalb anzunehmen, weil Frauen grundsätzlich häufiger psychisch erkranken als Männer. So haben sie ein mehr als doppelt so hohes Risiko wie Männer, an affektiven Störungen und Angststörungen zu erkranken, und das Risiko für eine posttraumatische Belastungsstörung ist bei ihnen sogar mehr als dreifach so hoch. Zwar neigen Männer deutlich öfter als Frauen zu riskantem Alkoholkonsum, allerdings greifen Frauen häufiger zu Medikamenten. Ungefähr zwei Drittel der Arzneimittelabhängigen sind Frauen.
Schwangere oder stillende Frauen sowie Mütter mit kleinen Kindern sind in der Regel besonders belastet, besorgt und verängstigt. Schließungen von Schulen, Kindertagesstätten und Pflegeeinrichtungen wirken sich stärker auf Frauen aus, da sie doppelt so viel Zeit wie Männer mit der Betreuung und Pflege von Kindern und Angehörigen verbringen. Frauen sind überwiegend die Opfer von häuslicher Gewalt. In der Alten- und Krankenpflege, die durch die Corona-Pandemie mit außerordentlichen Belastungen konfrontiert ist, arbeiten 70 bis 80 Prozent Frauen.
Homeschooling: Auswirkungen auf die Kinder (Anteil der Kinder, die oft oder mindestens mehrmals pro Woche betroffen waren). Quelle: DAK-Gesundheit, Forsabefragung Mai 2020 / Foto: PTA-Forum
PTA-Forum: Was kann der Einzelne, was können speziell Mitarbeiter in Apotheken tun, um psychisch stabil durch die Corona-Pandemie zu kommen?
Munz: Zur Corona-Pandemie gehört wesentlich, dass man dem Ansteckungsrisiko ausgeliefert ist. Hygiene- und Abstandsregeln bieten keinen absoluten Schutz, auch nicht für Mitarbeiter von Apotheken. Gerade wenn man täglich bei der Arbeit mit der Gefahr des Virus konfrontiert wird, ist es umso wichtiger, die eigene psychische Gesundheit im Blick zu behalten.
Das gilt gleichermaßen für alle Menschen, die sich durch die Pandemie akut belastet fühlen oder langfristig unter den existenziellen finanziellen Engpässen leiden, die auf die Pandemie folgen. Das Virus unterminiert menschliche Beziehungen, die essenziell wichtig sind, um psychisch stabil zu bleiben. Auch in Coronazeiten rate ich deshalb: Bleiben Sie in Kontakt. Suchen Sie die Nähe von Menschen, bei denen sie sich aufgehoben fühlen.
Homeschooling: Auswirkungen auf die Eltern (Anteil der Eltern, die oft oder mindestens mehrmals pro Woche betroffen waren). Quelle: DAK-Gesundheit, Forsabefragung Mai 2020. / Foto: PTA-Forum
PTA-Forum: Welche Schutzkonzepte sind notwendig, damit Menschen seelisch möglichst gesund durch eine zweite Welle kommen?
Munz: Eine ersatzlose längere Schließung von Kitas und Schulen ist sowohl für die Kinder und Jugendlichen als auch für die Eltern nicht tragbar. Aber auch für die Corona-Erkrankten selbst und ihre Angehörigen müssen Wege gefunden werden, trotz Ansteckungsgefahr in Kontakt zu bleiben. Für gefährdete und erkrankte Menschen bedarf es bei einer zweiten Welle dringend eines besseren Informations- und Beratungsangebots. Dafür sind Internetangebote wichtig, aber auch persönliche telefonische Beratung. Psychotherapeuten muss die telefonische Beratung und Behandlung von Patienten aller Altersgruppen ermöglicht werden, um Hilfsbedürftige überhaupt erreichen zu können. Kinder und Jugendliche waren durch die Schließung von Kitas, Schulen, Spielplätzen und Sportvereinen schwer belastet. Über das reine Home-Schooling hinaus ist bei einer zweiten Welle daher ein Betreuungs- und Kontaktangebot zu schaffen, das Kindern und Jugendlichen in stabilen kleinen Gruppen persönliche Nähe und Austausch ermöglicht. In der ambulanten und stationären Altenpflege muss eine totale Isolierung vermieden werden. Auf Ängste der Pflegeheimbewohner ist angemessen zu reagieren. Der Zugang zur psychotherapeutischen Versorgung muss auch in Pflegeeinrichtungen gewährleistet sein.
Coronaviren lösten bereits 2002 eine Pandemie aus: SARS. Ende 2019 ist in der ostchinesischen Millionenstadt Wuhan eine weitere Variante aufgetreten: SARS-CoV-2, der Auslöser der neuen Lungenerkrankung Covid-19. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronaviren.