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Arzneimittel-Wirksamkeit

Was Placebos  können und was nicht

1955 empörte der US-amerikanische Arzt Henry Beecher die Fachwelt mit seiner Behauptung, die Gabe von Zuckertabletten oder eine verständnisvolle Untersuchung würde bei einem Drittel der Patienten den Zustand verbessern. 66 Jahre später sind Placebo- und Nocebo-Effekte anerkannte Phänomene, von einer gezielten Anwendung ist man aber noch weit entfernt.
Carina Steyer
23.02.2021  08:30 Uhr

Die Wirkung von Placebos lässt sich vor allem durch zwei Mechanismen erklären: Erwartung und Lernen. Häufig sind beide miteinander verwoben, wenn etwa Erwartungen auf erlernten Erfahrungen basieren. In anderen Fällen handelt es sich um neue Erwartungen, die durch gezielte Information erzeugt wurden.

Welche enorme Wirkung Erwartungen entfalten können, konnte zum Beispiel die Arbeitsgruppe um die Essener Schmerzforscherin Professor Dr. Ulrike Bingel zeigen. Die Forscher versorgten ihre Testpersonen mit einer kleinen Elektrode, die an der Wade befestigt wurde und einen schmerzhaften Hitzereiz erzeugte. Die Wissenschaftler erfassten die Schmerzintensität zu verschiedenen Zeitpunkten, und zwar während die Probanden das Opioid Remifentanil bekamen und nachdem sie darüber informiert worden waren, dass die Gabe gestoppt werde und eine Schmerzzunahme zu erwarten sei. Obwohl die Probanden in Wirklichkeit das Medikament weiter bekamen, stieg ihr Schmerzempfinden auf einen ähnlich hohen Wert wie ohne Opioid-Gabe. Das spiegelte sich auch in der gleichzeitig untersuchten Hirnaktivität. Regionen, die für die Schmerzverarbeitung zuständig sind, waren nun deutlich aktiver.

Therapeutisch nutzen

Die Wirksamkeit des Placebo-Effekts wurde vielfach bewiesen, und die Bundesärztekammer empfahl bereits 2010 in einer Stellungnahme zu »Placebo in der Medizin«, den Effekt für die Maximierung der Therapie zu nutzen. Dennoch kommt er nur selten gezielt zur Anwendung. Das liegt unter anderem daran, dass das Feld der anwendungsorientierten Placebo-Forschung bisher nicht sehr groß ist.

Aktuell stehen vor allem zwei Ansätze im Mittelpunkt. Bei der Optimierung der Erwartungshaltung werden Patienten vor einem medizinischen Eingriff bewusst auf ein positives Ergebnis eingestimmt, um das Behandlungsergebnis zu verbessern. Dass das funktioniert, zeigt etwa die sogenannte PSY-HEART-I-Studie. Bypass-Operationen gelten als Goldstandard für Patienten mit Koronarer Herzkrankheit. Allerdings bleiben viele Patienten, trotz ausreichend hergestellter Herzfunktion, anschließend gesundheitlich eingeschränkt und zeigen eine geringere Lebensqualität. Signifikant verbessern lässt sich dies, wenn Patienten vor ihrem Eingriff in Gesprächen mit Ärzten und Psychologen klare Vorstellungen entwickeln, wie sich der Alltag nach dem Eingriff verändert, welche Aktivitäten wieder ausgeübt werden können und wie mit Symptomen und Problemen während des Genesungsprozesses umgegangen werden kann.

Als zweiter Ansatz setzt sich derzeit die Nutzung des Konditionierungseffekts durch. So konnte ein Team um Professor Dr. Manfred Schedlowski vom Institut für klinische Neurowissenschaften am Universitätsklinikum Essen zeigen, dass mit Hilfe einer erlernten immunsuppressiven Placebo-Reaktion die Dosis und die Nebenwirkungen von Immunsuppressiva verringert werden können. In ihrer Studie gaben die Wissenschaftler ihren Probanden vor der Einnahme des Immunsuppressivums ein Getränk aus Erdbeermilch und Lavendelöl, das mit Lebensmittelfarbe außergewöhnlich grün gefärbt worden war, zu trinken. Nach einer Konditionierungsphase reichte bereits der Geschmacksreiz, um ein Herunterfahren des Immunsystems zu erreichen. Da der Effekt jedoch allmählich wieder nachlässt, ist nur eine Dosisreduzierung des Immunsuppressivums möglich.

Das Phänomen der erlernten Immunantwort basiert auf zwei Grundlagen: Der Kommunikation zwischen Nerven- und Immunsystem und der Fähigkeit des Organismus, einen physiologischen Reflex über Konditionierung zu erlernen. Auch Allergiker könnten künftig von diesem Effekt profitieren wie eine kleine Studie mit 30 Probanden einer Arbeitsgruppe am Universitätsklinikum Essen gezeigt hat.

Die Wissenschaftler untersuchten, ob sich durch die gleichzeitige Gabe eines Antihistaminikums und eines ungewöhnlich schmeckenden Saftes eine Konditionierung auf den Saft erreichen lässt. Fünf Tage dauerte die Konditionierung, dann folgte eine Pause von neun Tagen. Anschließend bekamen 10 Patienten Wasser und ein Placebo, 11 Patienten den Saft und ein Placebo und 9 Patienten Wasser und das Antihistaminikum. Die Saft/Placebo-Gruppe zeigte nun denselben hemmenden Effekt auf das Immunsystem wie die Antihistaminikum-Gruppe. Auch bei den Wasser/Placebo-Probanden nahmen die subjektiven Symptome ab, es konnte aber kein Effekt auf das Immunsystem nachgewiesen werden

Open-Label-Placebos

Eine wichtige Frage in Zusammenhang mit dem Einsatz von Placebos ist die nach der ethischen Vertretbarkeit. Also: In wie weit ist es gerechtfertigt, Patienten pharmakologisch unwirksame Substanzen zu verabreichen, ohne sie darüber zu informieren? Eine Möglichkeit, zumindest in der niedergelassenen Praxis das Problem anzugehen, könnten sogenannte Open-Label-Placebos sein. Für die klinische Prüfung eines Arzneistoffs, wo placebokontrollierte Doppelblindstudien für einen hohen Standard sprechen, ist dieses Konzept freilich nicht geeignet.

Dabei werden die Patienten vor der Behandlung von ihrem Arzt vollständig darüber aufgeklärt, dass sie ein Scheinmedikament oder eine Scheintherapie erhalten und die Wirkung durch den Placebo-Effekt zustande kommen wird. Diese Vorgehensweise nutzt die Erkenntnis, dass sich der Placebo-Effekt nicht ausschalten lässt und dass die reine Zuversicht des Patienten einen Teil der Wirkung durch den Arzneistoff ausmacht, wenn der Arzt positiv darauf hinwirkt. Dass der Ansatz gut funktioniert, konnte eine Arbeitsgruppe um Professor Dr. Ted Kaptchuk von der Harvard Medical School bereits für verschiedene Erkrankungen wie Depressionen, Migräne, chronische Rückenschmerzen, Fatigue bei Krebstherapien, allergische Rhinitis und das Reizdarmsyndrom zeigen.

Negatives Gegenstück

Über das Gegenstück zum Placebo, das Nocebo und sein Effekt, ist wesentlich weniger bekannt. Definiert als das Auslösen oder Verschlimmern von Symptomen durch eine negative Einstellung des Patienten gegenüber Medikamenten oder medizinischen Eingriffen, hat der Nocebo-Effekt lange eher ein Nischendasein innegehabt.

Inzwischen gehen Experten jedoch davon aus, dass die Auswirkung des Nocebo-Effekts auf die Behandlung von Patienten sogar größer ist als der Placebo-Effekt. So konnte in einer Studie nachgewiesen werden, dass 70 bis 80 Prozent der berichteten Nebenwirkungen nicht von der untersuchten Substanz ausgegangen sind. Aus klinischen Studien ist bekannt, dass rund ein Viertel der Teilnehmer, die ein Placebo einnehmen, über Nebenwirkungen klagen. Werden die Teilnehmer gezielt nach Nebenwirkungen gefragt, steigt der Anteil der Betroffenen nochmal deutlich an. Patienten der Placebo-Gruppe berichten zudem meist von ähnlichen Nebenwirkungen wie die Probanden der Medikamentengruppe. Diese stimmen häufig gut mit den Symptomen überein, die im Rahmen der Aufklärungsgespräche besprochen wurden. In Studien mit trizyklischen Antidepressiva berichteten etwa Teilnehmer der Placebo-Gruppe signifikant häufiger von Mundtrockenheit, Verstopfung, Sehstörungen, sexuellen Problemen und Müdigkeit als in Studien mit einem selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Ähnliches wird auch den Statinen angelastet. So zeigen Studien, dass Muskelschmerzen unter Statinen nur häufiger als unter Placebo auftreten, wenn der Patient weiß, dass er ein Statin einnimmt.

Leicht auslösbar

Ja, der Nocebo-Effekt kann bereits auch durch den Markennamen eines Medikaments ausgelöst werden. Schätzungsweise 20 bis 30 Prozent der Patienten haben negative Vorbehalte gegenüber Generika und sehen diese als weniger effektiv und qualitativ schlechter an. So kann dann der Wechsel zu einem Generikum zu vermehrten Nebenwirkungen und verringerter Wirksamkeit führen. Und auch die Fachwelt ist vor der Annahme eines möglichen Nocebo-Effekts nicht gefeit. Experten schätzen, dass der Prozentsatz unter Apothekern und Ärzten mit Vorbehalten ähnlich hoch wie bei Patienten ist.

Nocebo-Effekte können zudem durch mediale Berichterstattung verstärkt werden. In Neuseeland änderte der alleinige Anbieter von Schilddrüsenhormonen GlaxoSmithKline 2007 und 2008 die Farbe und das Aussehen seiner Tabletten und verlegte die Produktion von Kanada nach Deutschland. Viele Patienten klagten daraufhin über Nebenwirkungen, die Medien berichteten darüber. Die neuseeländische Psychologin Kate Faasse und ihr Team werteten 2012 sowohl die in den Nachrichtensendungen genannten Nebenwirkungen als auch die Nebenwirkungen aus, die in diesem Zeitraum von Patienten an das Zentrum für Überwachung von Nebenwirkungen gemeldet worden waren. Ergebnis: Die Patienten meldeten signifikant häufiger Symptome, die in den Berichten thematisiert worden waren.

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