Weniger HIV-Diagnostik durch Corona |
Der Welt-Aids-Tag findet seit mehr als 30 Jahren jährlich am 1. Dezember statt. / Foto: Getty Images/Mohd Hafiez Mohd Razali/EyeEm
Wegen der Corona-Pandemie sind nach einem neuen Bericht deutlich weniger Menschen auf das HI-Virus (HIV) getestet worden. Dies alarmiert Gesundheitsexperten, weil weniger Tests bedeuten, dass neue Infektionen nicht entdeckt wurden. Wenn Infizierte nicht behandelt werden, steigt für sie die Lebensgefahr und ebenso das Risiko, dass sie andere Menschen anstecken.
»Das ist eine alarmierende Situation, wenn man bedenkt, dass es bei den neuen HIV-Infektionen in der WHO-Europaregion in den vergangenen zehn Jahren einen Aufwärtstrend gab«, teilten das Europa-Büro der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die EU-Gesundheitsbehörde ECDC vor dem heutigen Welt-Aids-Tag mit.
Das hat auch Folgen für andere Krankheiten, wie gerade die neue Coronavirus-Variante Omikron nahelegt. Experten halten es für möglich, dass sich Omikron bei einem HIV-Infizierten entwickelt hat. Bei schlecht therapierten HIV-Patienten ist das Immunsystem sehr geschwächt, und in Menschen mit geschwächtem Immunsystem kann sich ein Virus wie das Coronavirus über viele Wochen vermehren. Die unfaire Corona-Impfstoffverteilung führt dazu, dass Menschen im südlichen Afrika, wo die Mehrheit der HIV-Infizierten lebt, bislang mangels Impfstoff kaum gegen das Coronavirus geimpft werden konnten.
Die Zahl der gemeldeten HIV-Neuinfektionen sei in der Europa-Region 2020 um 24 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesunken, teilten die Behörden mit. Die Region umfasst 53 Länder, darunter neben der EU auch die Türkei, Turkmenistan, Russland und Israel. Erhebungen legten nahe, dass die Zahl der Menschen, die von ihrer Infektion nichts wissen, steige. In der EU und Island, Liechtenstein und Norwegen (EWR - Europäischer Wirtschaftsraum) seien 2020 insgesamt 14.971 Infektionen gemeldet worden, in der gesamten WHO-Europaregion 104.765. Im EWR werde das Virus vor allem bei gleichgeschlechtlichem Sex unter Männern übertragen, im östlichen Teil der Region infizierten Menschen sich vor allem durch heterosexuellen Kontakt und Drogenspritzen.
Auch das UN-Programm UNAIDS, der Globale Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria, die Deutsche Aidshilfe sowie 100% Life mahnten bei einer Pressekonferenz am Freitag an, dass die Corona-Krise dramatische Auswirkungen auf die Eindämmung des HI-Virus hat. Aufgrund von Covid-19 seien personelle und finanzielle Ressourcen für HIV umgelenkt, Präventionsprogramme kompromittiert und Lieferketten – einschließlich Lieferungen von überlebenswichtigen Medikamenten – unterbrochen worden, hieß es.
Die Bekämpfung von HIV sei zwar schon vor Ausbruch der Corona-Pandemie weltweit zu langsam fortgeschritten. Doch aufgrund von Covid-19 habe die HIV-Eindämmung einen weiteren Rückschlag erlitten, sagte Silke Klumb, Geschäftsführerin der Deutschen Aidshilfe.
Mit HIV infizierte Menschen haben nach Angaben von UNAIDS ein doppelt so hohes Risiko als die Allgemeinbevölkerung, an einer Corona-Erkrankung zu sterben. Die meisten Menschen mit HIV hätten jedoch noch immer keinen Zugang zu Corona-Impfstoffen. Zwei Drittel aller Menschen mit HIV leben in Afrika südlich der Sahara – dort hatten bis Mitte des Jahres erst drei Prozent der Bevölkerung mindestens eine Impfdosis erhalten. »Pandemien verstärken die Ungleichheit«, sagte der Exekutivdirektor des Globalen Fonds, Peter Sands. »Wir befinden uns in einer Zeit beispielloser Herausforderungen.«
Nach Angaben des Globalen Fonds habe es im vergangenen Jahr weltweit einen mehr als zehnprozentigen Rückgang von HIV-Tests und HIV-Präventionsmaßnahmen gegeben. Als Folge hätten viele mit HIV-infizierte Menschen ihre Behandlung spät begonnen. Die Corona-Pandemie habe zudem »katastrophale Auswirkungen« auf die weltweite Bekämpfung von Tuberkulose (TB) gehabt. Die Zahl der HIV-positiven TB-Patienten, die sowohl eine antiretrovirale als auch eine TB-Behandlung erhielten, sei 2020 um 16 Prozent zurückgegangen. Weltweit haben sich nach UN-Angaben rund 80 Millionen Menschen seit der Meldung der ersten Aids-Fälle 1981 mit dem HI-Virus infiziert, 36,3 Millionen infizierte Menschen sind gestorben.
Nach der RKI-Schätzung liegt die Zahl der Neuinfektionen bei 2000 und damit um 300 Fälle niedriger als im Jahr zuvor. Das geht aus einem am Donnerstag veröffentlichten RKI-Bericht hervor. Etwa 1100 Fälle gehen demnach auf Sex unter Männern zurück, aber auch hier sind die Zahlen rückläufig. Die Entwicklung wird jährlich neu vom RKI abgeschätzt, da HIV oft erst Jahre nach der Ansteckung diagnostiziert wird.
Die deutlich gesunkenen Neuinfektionszahlen bei der vulnerabelsten Gruppe – Männern, die Sex mit Männern haben –, seien nicht zuletzt ein Erfolg der medikamentösen HIV-Prävention (kurz PrEP), teilte der Geschäftsführer der Deutschen Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter, Robin Rüsenberg, mit. Das RKI weist daneben noch auf weitere mögliche Faktoren im Zuge der Corona-Pandemie hin: Menschen könnten Sexualkontakte eingeschränkt haben, zudem weniger Routinetests angeboten oder genutzt worden sein.
Laut RKI-Bericht wissen in Deutschland schätzungsweise 9500 Menschen nichts von ihrer HIV-Infektion. »Es ist sehr wichtig, frühzeitig von der Infektion zu erfahren und sich behandeln zu lassen«, sagte der Sprecher der Deutschen Aidshilfe, Holger Wicht. Man schütze damit die eigene Gesundheit, aber auch Sexpartnerinnen und Sexpartner. HIV-Medikamente können die Vermehrung von HIV im Blut verhindern, bis es nicht mehr nachweisbar ist. Das Virus sei dann sexuell auch nicht mehr übertragbar, sagte Wicht. Wer eine Infektion dagegen zu lange verschleppe, könne verschiedene Folgeschäden erleiden, die nicht mehr rückgängig zu machen seien, etwa Gehör- oder Gedächtnisstörungen.
Männer, die Sex mit Männern haben, sollten sich daher einmal pro Jahr testen lassen, Heterosexuelle nach ungeschütztem Sex mit neuen Partnern. Ein Arzt könne eine HIV-Infektion per Blutuntersuchung sechs Wochen nach dem Sex ausschließen, ein Schnelltest sei nach zwölf Wochen verlässlich. »Wenn Krankheitszeichen auftreten, kann schon viel kaputtgegangen sein«, sagte Wicht. Frühe Symptome wie Fieber, Nachtschweiß und Durchfall hingegen seien nicht eindeutig. »Selbst schwere Immundefekte werden in Arztpraxen oft nicht mit HIV in Verbindung gebracht. Wir sehen manchmal Menschen in Kliniken, die halb tot sind und vorher in vielen Praxen waren«, sagte Wicht. Auch Hausärzte sollten daher ihre Patienten auf eventuelle Risiken ansprechen und einen HIV-Test anbieten.
Coronaviren lösten bereits 2002 eine Pandemie aus: SARS. Ende 2019 ist in der ostchinesischen Millionenstadt Wuhan eine weitere Variante aufgetreten: SARS-CoV-2, der Auslöser der neuen Lungenerkrankung Covid-19. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronaviren.