Wenn ein Gesicht wie das andere aussieht |
Juliane Brüggen |
15.10.2021 14:00 Uhr |
Sich auffällige Gesichtsmerkmale wie eine Brille oder eine Frisur zu merken, kann eine Kompensationsstrategie für Menschen mit Prosopagnosie sein. / Foto: Getty Images/Jasmin Merdan
»Was habe ich dir getan?« oder »Warum ignorierst du mich?«, fragen sich wahrscheinlich viele entsetzt, wenn ein Freund oder Kollege sie bei einer unerwarteten Begegnung einfach nicht beachtet. Die vermeintlich ignorierte Person fühlt sich vor den Kopf gestoßen, ist beleidigt oder gar verletzt. So verständlich die Reaktion ist – für Menschen, die an Prosopagnosie leiden, sind solche Situationen mehr als unangenehm. »Meist werden Betroffene gerügt, weil ihnen unterstellt wird, dass sie sich nicht für andere Menschen interessieren oder sich ihre Gesichter nicht merken wollen und gar arrogant sind«, verdeutlicht Professor Ingo Kennerknecht vom Institut für Humangenetik am Universitätsklinikum Münster (UKM). »Es handelt sich um eine noch relativ unbekannte Wahrnehmungsstörung und mit Vergessen hat das überhaupt nichts zu tun, sondern mit dem prinzipiellen Unvermögen, überhaupt ein Gesicht individuell zu erkennen.«
Für die Betroffenen ist es schwer zu unterscheiden, welches Gesicht ihnen bekannt ist und welches nicht – manchmal sogar, wenn es um Familienangehörige oder das eigene Gesicht geht. »Der Begriff ›Gesichtsblindheit‹ ist allerdings irreführend, werden doch Gesichter mit all ihrer Mimik und Attraktivität als solche erkannt, wenn auch nicht die Person dahinter«, so Kennerknecht, der sich seit Jahrzehnten mit dem Krankheitsbild beschäftigt.
Verhaltenspsychologische Tests können zeigen, ob die Störung vorliegt, so Kennerknecht. So beispielsweise der »Cambridge Face Memory Test« (CMFT) oder ein von seinem Team und ihm entwickelter Fragebogen mit anschließendem Interview. »Jedoch sind die Übergänge ›schlechter‹ Gesichtserkenner zu Prosopagnostiker fließend, sodass nicht in jedem Fall eine sichere Zuordnung oder Diagnose möglich ist«, betont Kennerknecht. Prosopagnosie erkenne man häufig auch daran, dass die Betroffenen »eindrucksvolle Anekdoten« von Situationen erzählen, in denen sie jemanden nicht erkannt haben.
Die zugrundeliegende Genetik der meist familiär auftretenden Störung wird weltweit erforscht, eine Therapie gibt es aber noch nicht. Die Erkrankten entwickelten häufig Kompensationsstrategien, so Kennerknecht. Dazu gehöre, sich die Besonderheiten im Gesichtsbereich wie Hautunregelmäßigkeiten oder einen Haarschnitt zu merken. »Hilfreich sind auch Gangbild und Körperbau. Je unveränderlicher diese gewählten Merkmale sind, umso weniger fällt das Defizit auf«, sagt Kennerknecht. Ist die Störung sehr stark ausgeprägt, empfiehlt er ein Fachgespräch mit einem Neurologen, auch wenn Experten auf diesem Gebiet selten sind. Helfen könne auch, den Menschen im Umfeld offen zu erklären, dass es sich um eine Krankheit handelt, und nicht um fehlendes Interesse oder Arroganz.
Der Film »Lost in Face«, ein mehrfach ausgezeichneter Dokumentarfilm des Filmemachers und Neurowissenschaftlers Valentin Riedl, handelt von Prosopagnosie und porträtiert Carlotta, die keine Gesichter erkennen kann. »Der Film zeigt eindrucksvoll, wie ein besonderer Mensch eine besondere Lösung für ein ungewöhnliches und doch recht häufig vorkommendes Defizit findet«, sagt Kennerknecht und meint, dass der Film zu mehr Toleranz beitragen könne.