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Wirkungen und Grenzen von Vitamin D

Die Versorgung mit Vitamin D ist bei vielen Menschen unzureichend. Die Auswirkungen davon sind noch unklar. Viele vermeintliche »Wunderkräfte« des Vitamins sind aber nicht ausreichend belegt. Von einer unkritischen Substitution raten Fachleute daher ab.
Nicole Schuster
12.11.2021  15:00 Uhr

Je mehr, desto besser. Diesen Eindruck kann man bekommen, wenn man sich so manche Werbung für Vitamin-D-Präparate anschaut. Bei »Vitamin D« handelt es sich um eine ganze Gruppe verschiedener biologisch aktiver Calciferole. Die wichtigsten Formen sind das vor allem in Pilzen und einigen Pflanzen vorkommende Ergocalciferol (Vitamin D2) und das aus Lebensmitteln tierischer Herkunft stammende und vom Menschen gebildete Cholecalciferol (Vitamin D3, Colecalciferol, Calciol). Beide Formen können in der Leber gespeichert und unter anderem in der Niere in die aktive Form, das Calcitriol (1,25-Dihydroxy-Colecalciferol oder 1,25[OH]2D3), umgewandelt und ins Blut abgegeben werden.

»Bei Calcitriol handelt es eigentlich um ein Steroidhormon«, sagt Professor Dr. Hans Konrad Biesalski vom Institut für Ernährungswissenschaften an der Universität Stuttgart-Hohenheim im Gespräch mit PTA-Forum. »Es entfaltet seine Wirkungen, indem es an einen intrazellulären Rezeptor, den Vitamin-D-Rezeptor (VDR), bindet.« Der Komplex aus VDR und Vitamin D bindet an die DNA und wirkt dann als Transkriptionsfaktor. Auf diese Weise kann Vitamin D zahlreiche Gene aktivieren.

Die Bezeichnung »Vitamin« ist noch aus einem anderen Grund unpassend. Vitamine kann der Körper definitionsgemäß nicht selbst herstellen, sondern muss sie mit der Nahrung aufnehmen. Bei Calciferol wiederum bildet der Körper bis zum Alter von 60 Jahren etwa 80 bis 90 Prozent des Bedarfs selbst in der Haut. Die Voraussetzung dafür ist allerdings die Bestrahlung mit UV-B-Licht. Über die Ernährung allein ist es hingegen so gut wie unmöglich, ausreichend Vitamin D dauerhaft aufzunehmen, da dieses nur in wenigen Lebensmitteln enthalten ist. Beispiele für Vitamin-D-haltige Nahrungsmittel sind fetter Seefisch, Speisepilze und Eier. Weitere Quellen sind Nahrungsergänzungsmittel und angereicherte Lebensmittel wie bestimmte Margarinen.

Schlüsselrolle im Knochenstoffwechsel

Die vermutlich bekannteste Wirkung von Vitamin D ist seine Rolle im Knochenstoffwechsel. Es fördert unter anderem die Resorption von Calcium und Phosphat aus dem Darm, hält den physiologischen Serum-Calciumspiegel aufrecht und unterstützt den Einbau von Calcium in die Knochen. Der VDR ist allerdings außer an den Knochenzellen auch an den Zellen zahlreicher innerer Organe wie der Bauchspeicheldrüse und dem Gehirn, Zellen des Immun- und des kardiovaskulären Systems sowie Muskelzellen ausgebildet. Auch weiß man mittlerweile, dass nicht nur die Niere, sondern auch fast alle anderen Organe die Vitamin-D-Vorstufen in die aktive Form umwandeln können. Die Erkenntnis, dass viele Organe den aktiven Metaboliten selbst herstellen und dieser an Ort und Stelle wirken kann, lässt vermuten, dass ein Mangel über den Knochenstoffwechsel hinaus Auswirkungen auf den Körper hat. So trägt Vitamin D zum Beispiel zu einer normalen Funktion des Immunsystems und der Muskeln bei.

Umso wichtiger erscheint eine ausreichende Versorgung. Die Sonneneinstrahlung in den hiesigen Breiten lässt es aber hauptsächlich nur von März bis Oktober zu, Vitamin D selbst herzustellen. Dafür reicht es, je nach Hauttyp, Monat und Tageszeit, zwei- bis dreimal pro Woche für 10 bis 25 Minuten Gesicht, Hände und Arme unbedeckt und ohne Sonnenschutz der Sonne auszusetzen.

Risiko für ein Defizit

Einen Mangel an Vitamin D haben häufig Menschen, die sich selten im Freien aufhalten, vor allem Pflegebedürftige und Bettlägerige sowie Säuglinge, die per se nicht der Sonne ausgesetzt werden sollten. Bei Senioren ist das Risiko erhöht, weil die endogene Synthese im Alter nachlässt. Weiterhin gilt, dass die Produktion erschwert ist, je dunkler die Hautfarbe ist. Der höhere Melaningehalt in der Haut lässt weniger UVB-Strahlen durch. Dunkelhäutigere Menschen müssen sich daher länger der Sonne exponieren beziehungsweise brauchen eine höhere UV-B-Intensität, was in den hiesigen Breiten nur schwer zu erreichen ist.

Sonnencreme und Tagescremes mit UV-Filter sind zwar begrüßenswert, wenn es darum geht, das Hautkrebsrisiko zu senken. Sie können aber einer optimalen Ausnutzung des Sonnenlichts für die Vitamin-D-Produktion im Wege stehen. Auch unser Lebensstil, der größtenteils in geschlossenen Räumen stattfindet, ist ein Problem. Kulturelle Besonderheiten sind ebenfalls zu bedenken. Menschen, die aus religiösen Gründen den ganzen Körper bedecken, haben schneller einen Vitamin-D-Mangel als Personen, die jede Möglichkeit für ein Sonnenbad in Badekleidung nutzen. Bei Vitamin-D-Mangelzuständen kann die PTA auch an Patienten denken, die unter chronischen Magen-Darm-, Leber- oder Nierenerkrankungen leiden oder bestimmte Medikamente wie Antiepileptika oder Zytostatika einnehmen, die den Vitamin-D-Stoffwechsel beeinträchtigen. Adipöse Menschen wiederum haben das Problem, dass sie einen Teil des Vitamins irreversibel im Bauchfett speichern.

Besonders gravierend ist ein Vitamin-D-Mangel bei Säuglingen. Eine Eigenproduktion findet bei ihnen nur reduziert statt, auch weil sie keiner direkten Sonnenstrahlung ausgesetzt werden sollen. Der Gehalt an Vitamin D in der Muttermilch ist gering. In der Folge können sich schwerwiegende Störungen des Knochenwachstums und bleibende Verformungen des Skeletts entwickeln. Eine solche Rachitis ist in Deutschland jedoch selten geworden, seitdem Säuglinge während des ersten Lebensjahres standardmäßig im Rahmen der allgemeinen Vorsorge spezielle Vitamin-D-Präparate vom Kinderarzt verschrieben bekommen.

Tropfen oder Tabletten?

Dazu erhalten Neugeborene täglich 400 bis 500 I.E. des Vitamins, Frühgeborene (Geburtsgewicht unter 1500 g) 800 bis 1000 I.E. bis zum zweiten erlebten Sommer. Ziel ist eine Serumkonzentration von > 50 nmol/l. Dosierungen von 500 und 1000 I.E. stehen in Tablettenform zur Verfügung (wie Dekristol® 400/500 I.E. Tabletten, Vigantol® 500 I.E. Vitamin D3 Tabletten, Vitagamma® Vitamin D3 1000 I.E., Vitamin D Sandoz® 500 I.E. Tabletten), darüber hinaus gibt es Tropfen (wie Dekristol® 20.000 I.E./ml Tropfen, Vigantol®-Öl 20.000 I.E./ml). Tabletten lassen Eltern am besten auf einem Teelöffel mit Wasser oder Milch zerfallen und geben die Lösung dem Kind direkt in den Mund. Abzuraten ist davon, die Tablette in eine Flaschen- oder Breimahlzeit einzuarbeiten, da hierbei keine vollständige Vitamin-D-Zufuhr garantiert werden kann.

Die flüssige Form mag zwar dem Kind leichter zu verabreichen sein, allerdings kann die Dosierung ungenauer sein. Je nach Raumtemperatur variieren die Tropfen in der Größe und der Säugling erhält dann unter Umständen mehr Vitamin D als vorgesehen, was zu einer schleichenden Überdosierung führen könnte.

Viele sind unterversorgt

Um den Vitamin-D-Status zu bestimmen, wird die Speicherform 25-Hydroxy-D3, kurz 25(OH)D, im Blutserum gemessen. Der aktive Metabolit weist im Serum nur eine Halbwertszeit von unter vier Stunden auf und ist daher zur Bestimmung nicht geeignet. Die gesetzlichen Krankenversicherungen übernehmen die Kosten für die Laboruntersuchung von etwa 25 bis 35 Euro allerdings in der Regel nicht. Das Ergebnis erhält der Patient in den Einheiten nmol/l oder ng/ml. Für die Umrechnung von nmol/l in ng/ml teilt man den Wert durch 2,5.

Welcher Vitamin-D-Wert jedoch »gesund« ist oder präventiv wirkt, ist unklar. Normwerte werden in der Regel auf die Knochengesundheit bezogen. Das Robert-Koch-Institut (RKI) und die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) beziehen sich dafür auf die international häufig genutzte Klassifikation des US-amerikanischen Institute of Medicine (IOM). Demnach gilt, dass eine 25(OH)D-Serumkonzentration ab 50 nmol/l beziehungsweise ab 20 ng/ml auf eine ausreichende Versorgung zum Erhalt der Knochengesundheit schließen lässt. Serumwerte von unter 30 nmol/l beziehungsweise unter 12 ng/ml bedeuten hingegen eine mangelhafte Vitamin-D-Versorgung mit einem erhöhten Risiko für Krankheiten wie Osteomalazie und Osteoporose.

Die DEGS1-Erhebung aus 2015 zeigt, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland (61,6 Prozent) nicht die wünschenswerte Konzentration 25-(OH)D von 50 nmol/l erreicht, 30,2 Prozent kommen sogar nur auf einen Wert unter 30 nmol/l. »Ein einmalig festgestellter, zu geringer Vitamin-D-Wert als Punkt-Analyse bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass ein langfristiger Mangel vorliegt, der bei Erwachsenen klinische Symptome wie Osteomalazie oder Osteoporose auslöst oder eine Rachitis bei Kindern«, sagt Biesalski. Bei der Beurteilung des Wertes berücksichtigen Ärzte zudem, dass der Vitamin-D-Status starken saisonalen Schwankungen unterliegt.

25(OH)D in nmol/l 25(OH)D in ng/ml Interpretation nach IMO-Klassifizierung
<30 <12 Mangelhafte Versorgung mit einem erhöhten Risiko für Krankheiten wie Rachitis, Osteomalazie und Osteoporose.
30–<50 12–<20 Suboptimale Versorgung mit möglichen Folgen für die Knochengesundheit.
50–<75 20–<30 Ausreichende Versorgung in Bezug auf die Knochengesundheit.
75–<125 30–<50 Ausreichende Versorgung in Bezug auf die Knochengesundheit ohne weiteren Zusatznutzen für die Gesundheit.
≥125 ≥50 Mögliche Überversorgung, die für den Körper negative gesundheitliche Folgen haben kann, zum Beispiel Hypercalcämien, die zu Herzrhythmusstörungen oder Nierensteinen führen können.
Tabelle 2: IMO-Klassifizierung der Vitamin-D-Versorgung Quelle: Robert Koch-Institut. Antw

Für eine generelle Einnahme von Vitamin-D-Präparaten zur Prävention oder gar Behandlung von Krankheiten in der Allgemeinbevölkerung fehlen derzeit belastbare Daten. Aber es gibt Ausnahmen. »Bei Menschen über 65 Jahre, Pflegebedürftigen und sonstigen Risikogruppen ist die Substitution von Vitamin D sinnvoll«, sagt der Experte. Er empfiehlt dafür die tägliche Gabe von 20 µg beziehungsweise 800 I.E. Vitamin D. Von hochdosierten Wochendepots rät Biesalski ab. Bei diesen Präparaten steige das Risiko für eine akute oder schleichende Überdosierung.

Allein durch die Eigenproduktion oder über die natürliche Ernährung ist eine Intoxikation nicht möglich. Die langfristige Zufuhr exzessiver Mengen (weit über 1000 µg oder 40.000 i.E. täglich) in Form von hoch dosierten Supplementen oder angereicherten Lebensmitteln kann jedoch eine Vitamin-D-Hypervitaminose verursachen. Die Folge sind zu hohe Calciumspiegel im Blut (Hypercalcämie), die zu Übelkeit, Appetitlosigkeit, Bauchkrämpfen, Erbrechen und in schweren Fällen auch zu Nierenschädigungen, Herzrhythmusstörungen, Bewusstlosigkeit und sogar Tod führen können. »Voraussetzung für eine Supplementierung bei Menschen außerhalb der Risikogruppen sollte deshalb immer sein, dass der Arzt bei einer Blutuntersuchung einen tatsächlichen Mangel festgestellt hat und die Einnahme kontrolliert«, sagt der Ernährungsmediziner.

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